Skip to main content

VG Bremen, Urt. v. 03.07.2012 – D K 20/11 – „Streikverbot für beamtete Lehrer“

ZVR-Online Dok. Nr. 63/2012 – online seit 27.11.2012

Art. 9 GG, Art. 33 GG, Art. 11 EMRK, § 9 BBesG, § 34 BeamtStG, § 47 BeamtStG, § 13 BremDG, § 59 BremDG

Leitsatz der Redaktion

Im Gegensatz zu Tarifbeschäftigten im öffentlichen Dienst können sich Beschäftigte im Beamtenstatus nicht auf ein Streikrecht berufen. Die Koalitionsfreiheit der Beamten wird insoweit durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums eingeschränkt.Rn. 1

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Aufhebung einer Disziplinarverfügung.Rn. 2
Der im Jahre 1968 geborene Kläger steht seit 2006 im Schuldienst der Beklagten. Seit dem 01.02.2009 ist er Studienrat im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit.Rn. 3
Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft leitete am 31.07.2009 gegen den Kläger ein Disziplinarverfahren ein, nachdem bekannt geworden war, dass der Kläger am 25.02.2009 einem Aufruf der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zu einem Warnstreik gefolgt und seiner Unterrichtsverpflichtung im Umfang von 4 Stunden nicht nachgekommen war.Rn. 4
Nach Anhörung des Klägers erteilte die Senatorin für Bildung und Wissenschaft dem Kläger mit Bescheid vom 25.02.2010 wegen eines Dienstvergehens einen Verweis. Nach dem Ermittlungsergebnis im Disziplinarverfahren habe der Kläger am 25.02.2009 insgesamt 4 Unterrichtsstunden versäumt, weil er dem Aufruf einer Gewerkschaft zu einem Warnstreik gefolgt sei, um eine Übertragung des Tarifergebnisses auf die Beamtenbesoldung zu erreichen. Damit habe der Kläger schuldhaft gegen seine beamtenrechtliche Pflicht aus § 34 Satz 1 BeamtStG (sich mit vollem persönlichen Einsatz seinem Beruf zu widmen) verstoßen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sei das in Art. 33 Abs. 5 GG verankerte beamtenrechtliche Streikverbot anerkannt. Aus Art. 11 der Europäischen Menschrechtskonvention (EMRK) und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ergebe sich nichts anderes. Das Recht auf Kollektivverhandlungen und Streik nach Art. 11 EMRK stehe im Rang eines Bundesgesetzes und habe damit keinen Verfassungsrang. Die in Verfahren gegen die Türkei ergangenen Entscheidungen des EGMR rechtfertigten ebenfalls nicht die Teilnahme an einem Arbeitskampf. Nach Abwägung der für und gegen den Kläger sprechenden Umstände sei ein Verweis als mildeste Disziplinarmaßnahme gerechtfertigt.Rn. 5
Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Senatorin für Bildung und Wissenschaft als unbegründet zurück. Im Widerspruchsbescheid vom 07.12.2010 wird im Hinblick auf das Widerspruchsvorbringen des Klägers u. a. ausgeführt: Art. 9 Abs. 3 GG garantiere zwar die Teilnahme an einem Arbeitskampf. Davon abweichend unterlägen Beamtinnen und Beamte aufgrund ihres öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnisses bei der Durchsetzung ihrer berufspolitischen Ziele jedoch den Bindungen von Art. 33 Abs. 4 und 5 GG. Danach sei ein Streikverbot für Beamte anerkannt.Rn. 6
Der Kläger hat am 07.01.2011 Klage erhoben. Er trägt vor: Die Teilnahme am Warnstreik stelle keinen Verstoß gegen beamtenrechtliche Dienstpflichten dar. Die höchstrichterliche Rechtsprechung leite ein Streikverbot der Beamten aus den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) ab. Diese Grundsätze seien vom Gesetzgeber fortzuentwickeln. Dies sei durch § 34 Satz 1 BeamtStG geschehen. Die Vorschrift verlange nicht mehr die volle Hingabe des Beamten an seinen Beruf, sondern nunmehr den „vollen persönlichen Einsatz“. Darin liege nicht nur eine redaktionelle Anpassung. Die Änderung lasse vielmehr zu, dass der Beamte sich aktiv für die Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen einsetze. Das Streikverbot für Beamte werde zu Unrecht als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums angesehen. Die Begründungen für das von der herrschenden Meinung gesehene Streikverbot seien alle nicht überzeugend. Dies wird umfangreich ausgeführt. Das allgemeine Streikverbot für Beamte habe sich jedenfalls durch die Übernahme von Art. 11 EMRK in ein partielles Streikverbot verwandelt, das nur noch für Mitglieder der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung gelte. Für beamtete Lehrer, die nicht hoheitlich tätig seien, gelte daher kein Streikverbot. Das sei vom Verwaltungsgericht Kassel (Urt. v. 27.07.2011 - 28 K 574/10.KS) so zutreffend entschieden worden. Der EGMR habe in zwei Entscheidungen vom 12.11.2008 und vom 21.02.2009 anerkannt, dass das Streikrecht durch Art. 11 EMRK geschützt sei und ein generelles Streikverbot für Beamte im Widerspruch dazu stehe. Deutsche Gerichte hätten das nationale Recht so auszulegen, dass es nach Möglichkeit in Einklang mit dem Völkerrecht stehe. Der Sachverständigenausschuss und der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der Internationalen Arbeitsorganisation hätten die Bundesrepublik Deutschland seit 1987 ständig wegen des Verbots von Beamtenstreiks kritisiert. Auch der UN-Sozialpaktausschuss habe das Streikrecht für Lehrkräfte ausdrücklich anerkannt und eine Verletzung von Art. 8 Abs. 1 Buchst. d UN-Sozialpakt festgestellt. Der für die Auslegung der Europäischen Sozialcharta (ESC) zuständige Europäische Ausschuss für Soziale Rechte habe ebenfalls festgestellt, dass ein umfassendes Streikverbot für Beamte nicht mit Art. 6 Abs. 4 ESC vereinbar sei.Rn. 7
Der Kläger beantragt,

die Disziplinarverfügung der Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2010 aufzuheben.
Rn. 8
Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.
Rn. 9
Sie verweist auf die ergangenen Bescheide und tritt der Klage entgegen. Der Kläger verkenne den elementaren Unterschied bei der Begründung und Ausgestaltung von Arbeits- und Beamtenverhältnissen. Die Besoldung des Beamten werde einseitig durch den Gesetzgeber festgelegt. Daran könne auch ein Streikrecht einzelner Beamtengruppen nichts ändern.Rn. 10
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.Rn. 11

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.Rn. 12
Bei Klagen gegen eine Disziplinarverfügung prüft das Disziplinargericht gemäß § 59 Abs. 2 und 3 BremDG im Rahmen der gestellten Klaganträge (§ 3 BremDG i. V. m. § 88 VwGO) die Recht- und Zweckmäßigkeit der angefochtenen Disziplinarmaßnahme. Diese Überprüfung ergibt hier, dass es bei dem ausgesprochenen Verweis verbleibt.Rn. 13
1. Die Disziplinarverfügung in der Fassung des Widerspruchsbescheides ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Sie entspricht insbesondere den gesetzlichen Anforderungen an Zuständigkeit, Form und Begründung.Rn. 14
2. Die Fachkammer folgt den tatsächlichen Feststellungen in der Disziplinarverfügung. Danach hat der Kläger als beamteter Lehrer im bremischen Schuldienst am 25.02.2009 im Umfang von 4 Stunden den ihn obliegenden stundenplanmäßigen Unterricht versäumt, weil er in dieser Zeit an einem Warnstreik teilgenommen hat, zu dem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aufgerufen hatte, um eine Übertragung des zuvor von Tarifbeschäftigten erkämpfte Tarifergebnis auf die Beamtenbesoldung zu erreichen. Über diesen Sachverhalt, der allein dem Disziplinarvorwurf zugrunde liegt, besteht kein Streit.Rn. 15
3. Der Kläger hat ein Dienstvergehen begangen, weil er durch den unter 2. festgestellten Sachverhalt schuldhaft seine Dienstpflichten verletzt hat (§ 47 Abs. 1 BeamtStG). Zu den Grundpflichten eines Beamten gehört es, nicht ungenehmigt dem Dienst fernzubleiben (§ 33 Abs. 1 BeamtStG). Dagegen hat der Kläger verstoßen. Ob er zugleich weitere in Betracht kommende Beamtenpflichten verletzt hat, bedarf hier keiner näheren Prüfung, weil es für die Maßnahmebemessung darauf nicht ankommt (vgl. unter 5.).Rn. 16
4. Dem Kläger steht kein Rechtfertigungsgrund für das Fernbleiben vom Dienst zur Seite. Er kann sich nicht mit Erfolg auf ein Streikrecht für beamtete Lehrer berufen.Rn. 17
4.1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 9 Abs. 3 und 33 Abs. 5 GG können sich nur Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst, nicht auch Beschäftigte im Beamtenstatus auf ein Streikrecht berufen. Die nach Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete Koalitionsfreiheit gilt zwar für jedermann und beinhaltet grundsätzlich auch ein Streikrecht. Allerdings wird die Koalitionsfreiheit der Beamten durch die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) eingeschränkt. Der Beamte ist aufgrund seiner Treuepflicht dem Allgemeinwohl verpflichtet und hat seine eigenen Interessen demgegenüber zurückzustellen. Der Einsatz wirtschaftlicher Druckmittel, insbesondere kollektiver Arbeitskampfmaßnahmen, ist dem Beamten verwehrt. Auch das ebenfalls zu den hergebrachten Grundsätzen gehörende Alimentationsprinzip schließt es aus, dass der Beamte sich seine Besoldung „erstreitet“ und deren Höhe „vereinbart“ (zum Ganzen: BVerfG, Beschlüsse vom 19.09.2007 - 2 BvF 3/02 -, BVerfGE 119, 247; vom 30.03.1977 - 2 BvR 1039/75 u. a. -, BVerfGE 44, 249 und vom 11.06.1958 - 1 BvR 1/52 u. a. - BVerfGE 8, 1). Das angerufene Verwaltungsgericht ist nach § 31 BVerfGG an diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 33 Abs. 5 GG gebunden, weil sie tragend den Kern von Art. 33 Abs. 5 GG bestimmt.Rn. 18
4.2. Mit der Argumentation, der Kernbestand des Art. 33 Abs. 5 GG müsse im Lichte der Entscheidungen der Großen Kammer des EGMR vom 12.11.2008 (34503/97 - Demir und Baykara/Türkei - NZA 2010, 1425) und der III. Sektion des EGMR vom 21.04.2009 (68959/01 - Enerji Yapi-Sol Sen/Türkei - NZA 2010, 1423) einengend auf die in Art. 11 Abs. 2 EMRK genannten Bereiche (Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung) verstanden werden und schließe deshalb ein Streikverbot für beamtete Lehrer nicht mehr ein, kann der Kläger die Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG nicht überwinden.Rn. 19
a) Das Bundesverfassungsgericht hat das Verhältnis der EMRK zum Grundgesetz zuletzt in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung (Urt. v. 04.05.2011 - 2 BvR 2365/09 – NJW 2011, 1931 ff) näher bestimmt. Zwar stehen danach Entscheidungen des EGMR, die neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, rechtserheblichen Änderungen gleich, die zu einer Überwindung der Rechtskraft von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts führen können. Auch dienen der Konventionstext und die Rechtsprechung des EGMR auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Die Möglichkeiten einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung enden aber dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint, insbesondere dann, wenn hierdurch eine Kernstruktur in Frage gestellt werden würde. Es spricht nichts dafür, für die Frage, ob die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG durchbrochen werden kann, einen anderen Maßstab zugrunde zu legen.Rn. 20
b) Hieran gemessen versetzen die genannten Entscheidungen des EGMR das angerufene Gericht nicht in die Lage, den Kernbestand des Art. 33 Abs. 5 GG, soweit er das statusbezogene Streikverbot der Beamten betrifft, abweichend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren.Rn. 21
aa) Es ist schon fraglich, ob den beiden Entscheidungen des EGMR überhaupt - wie der Kläger meint - eine völkerrechtliche Gewährleistung des Streikrechts für nicht hoheitlich tätige Beamte (im Sinne des deutschen Beamtenrechts) entnommen werden kann.Rn. 22
Die genannte Entscheidung vom 12.11.2008 erscheint insoweit nicht ergiebig, weil der EGMR darin u. a. ausgeführt hat, dass Fragen des Verbots des Streikrechts im öffentlichen Dienst nicht Gegenstand dieses Verfahrens seien (insoweit abgedruckt in: AuR 2009, 269, 273 und wohl auch im französischen Originaltext, vgl. dazu OVG NRW, Urt. v. 07.03.2012 - 3d A 317/11.O - juris, Rn. 206). Die Entscheidung betrifft auch im Übrigen im Kern die Gründung einer Gewerkschaft durch Gemeindebedienstete und nicht die hier interessierende Frage, inwieweit das Koalitionsrecht (Art. 11 EMRK, Art. 9 Abs. 3 GG) durch ein statusbezogenes Streikverbot für Beamte einschränkt werden darf.Rn. 23
Auch aus dem zitierten Urteil des EGMR vom 21.04.2009 lässt sich keine verlässliche Aussage dahingehend entnehmen, dass beamtete Lehrer im Hinblick auf Art. 11 EMRK vom Streikverbot nach Art. 33 Abs. 5 GG ausgenommen werden müssten. In dieser Entscheidung hatte der EGMR die Frage zu beantworten, ob es einen nach Art. 11 EMRK unzulässigen Eingriff in das Recht auf Gewerkschaftsfreiheit einer in Ankara ansässigen Gewerkschaft von Angehörigen des öffentlichen Dienstes darstellt, dass die türkische Regierung „allen“ Bediensteten im öffentlichen Dienst per Runderlass die Teilnahme an einem landesweit ausgerufenen Streik untersagt hatte. Der EGMR kam zu dem Ergebnis, der Runderlass habe keinem „dringendem sozialen Bedürfnis“ entsprochen und unverhältnismäßig in die wirksame Ausübung der von Art. 11 EMRK garantierten Rechte der Gewerkschaft eingegriffen. Zur Begründung führte der EGMR aus: Das Streikrecht sei nicht absolut. Es könne von Voraussetzungen abhängig gemacht und beschränkt werden. So könne es mit der Gewerkschaftsfreiheit vereinbar sein, Streiks von Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu verbieten, die im Namen des Staates Hoheitsgewalt ausübten. Ein Streikverbot könne also „bestimmte Gruppen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes betreffen, aber nicht insgesamt für den öffentlichen Dienst ausgesprochen werden, wie das hier der Fall sei“ (insgesamt zitiert nach der deutschen Übersetzung in: NZA 2010, 1423, 1424 f. [Rn. 32]).Rn. 24
Aus dieser Entscheidung des EGMR lässt sich zur Überzeugung der Fachkammer nicht hinreichend verlässlich und eindeutig entnehmen, dass beamtete Lehrer in Deutschland nach nationalem Recht ein Streikrecht hätten, weil sie nicht i.S.v. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK den Streitkräften, der Polizei oder der Staatsverwaltung angehören. Vielmehr hat der EGMR nur das generelle Streikverbot, das alle Angehörigen des öffentlichen Dienstes in der Türkei betraf, als unverhältnismäßigen und damit unzulässigen Eingriff in die Rechte der Gewerkschaft angesehen. Daraus lässt sich eine Gewährleistung des Streikrechts für Beamte des öffentlichen Dienstes in Deutschland, die - neben Tarifbeschäftigten - in nicht hoheitlichen Bereichen tätig sind, nicht zwingend schlussfolgern. Das OVG Nordrhein-Westfalen (a. a. O., Rn. 217) kommt unter Auswertung des französischen Originaltextes der Entscheidung des EGMR zu dem Ergebnis, diese in Teilen der Literatur (vgl. Lörcher, Das Menschenrecht auf Kollektivverhandlung und Streik - auch für Beamte in: AuR 2009, 229) gleichwohl vorgenommene Schlussfolgerung beruhe auf einem Missverständnis, weil alle im öffentlichen Dienst Beschäftigten unzutreffend mit den Beamten gleichgesetzt würden. In der besagten Entscheidung des EGMR werde aber der weite Begriff „fonctionnaire“ (Amtsträger bzw. Angehöriger des öffentlichen Dienstes) verwendet, während der EGMR den Beamten im engeren (statusrechtlichen) Sinne sonst mit „agent titulaire“ bezeichne. Das OVG Nordrhein-Westfalen (a. a. O., Rn. 213) weist zudem zutreffend darauf hin, dass es sich bei der Entscheidung des EGMR um eine reine Beweislastentscheidung gegen die Türkei handelt. In der Entscheidung heißt es nämlich, die Regierung habe nicht nachgewiesen, dass die umstrittene - generelle - Beschränkung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei (vgl. EGMR, Urt. v. 21.04.2009, a. a. O., Rn. 32).Rn. 25
bb) Wollte man den genannten Entscheidungen des EGMR entgegen der hier vertretenen Ansicht gleichwohl entnehmen, dass den Beamten gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK Streiks zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht statusbezogen untersagt werden dürfen, sondern nur funktionsbezogen im Bereich des Militärs, der Polizei und der Staatsverwaltung, eröffnete sich der Fachkammer im Ergebnis gleichwohl nicht die Möglichkeit einer Neubewertung des in Art. 33 Abs. 5 GG enthaltenen Streikverbots, weil dadurch der Kerngehalt dieser Vorschrift infrage gestellt werden würde.Rn. 26
Das statusbezogene Streikverbot in Art. 33 Abs. 5 GG ist, wie dargelegt, Ausprägung der Treuepflicht des Beamten und des Alimentationsprinzips. Eine Anpassung dieser hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums an funktionsbezogene Vorgaben des Art. 11 EMRK würde den Kernbestand des Art. 33 Abs. 5 GG, wie er durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgenommen worden ist, berühren. Die in Art. 33 Abs. 5 GG statusbezogen verankerten Grundsätze enthalten ein ausbalanciertes System von überkommenen Grundpflichten und Grundrechten aus dem Beamtenverhältnis, das durch ein Streikrecht der Beamten wesentlich verändert werden würde. Denn ein Streikrecht schlösse notwendigerweise zugleich eine Minderung der Treuepflicht und eine Erosion des Alimentationsprinzips ein. Auch würde der Statusbezug der hergebrachten Grundsätze - zumindest partiell - durch einen Funktionsbezug ersetzt. Mit einer so weitreichenden Neubestimmung des Art. 33 Abs. 5 GG wären die Grenzen zulässiger Verfassungsauslegung durch ein Fachgericht ersichtlich überschritten. Auch könnte sich ein Fachgericht nicht zumindest auf einen Ansatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums nunmehr funktionsbezogen zu interpretieren. Deshalb muss es dem Verfassungsgesetzgeber bzw. dem Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ vorbehalten sein, den Kernbestand von Art. 33 Abs. 5 GG in seinen Grundstrukturen ggf. an das Konventionsrecht in Art. 11 EMRK anzupassen.Rn. 27
4.3. Soweit der Kläger sich für ein Beamtenstreikrecht auf weitere völkerrechtliche Normen beruft, folgt die Fachkammer ihm nicht, weil diese Normen im Range einfacher Bundesgesetze (Art. 25 GG) gelten und deshalb die Bindungswirkung der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 33 Abs. 2 GG nicht überwinden.Rn. 28
4.4. Die Fachkammer sieht sich in ihrer Einschätzung im Ergebnis bestätigt durch die aktuelle Rechtsprechung des OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 07.03.2012 - 3d A 317/11.O -, juris) und des OVG Lüneburg (Urteil vom 12.06.2012 - 20 BD 7/11 und 20 BD 8/11, bislang noch unveröffentlicht, vgl. Presseinformation www.oberverwaltungsgericht.niedersachsen.de/portal) zu sog. „Lehrerstreiks“ in Deutschland.Rn. 29
5. Es ist nicht geboten, von dem angefochtenen Verweis abzusehen.Rn. 30
Welche Disziplinarmaßnahme erforderlich ist, richtet sich gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BremDG nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung. Die Schwere des Dienstvergehens beurteilt sich zum einen nach der Eigenart und Bedeutung der verletzten Dienstpflichten, Dauer und Häufigkeit der Pflichtenverstöße und den Umständen der Tatbegehung (objektive Handlungsmerkmale), zum anderen nach Form und Gewicht des Verschuldens und den Beweggründen des Beamten für sein pflichtwidriges Handeln (subjektive Handlungsmerkmale) sowie nach den unmittelbaren Folgen der Pflichtenverstöße für den dienstlichen Bereich und für Dritte. Dies entspricht dem Zweck der Disziplinarbefugnis als einem Mittel zur Funktionssicherung des öffentlichen Dienstes. Danach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, welche Disziplinarmaßnahme geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Beamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (BVerwG, Urt. v. 03.05.2007 - 2 C 9.06 - NVwZ-RR 2007, 695).Rn. 31
Ist nach diesen Kriterien eine Disziplinarmaßnahme nicht angezeigt, obwohl ein Dienstvergehen erwiesen ist, hebt das Gericht die Disziplinarverfügung auf (vgl. §§ 59 Abs. 3, 32 Abs. 1 Nr. 2 BremDG). Andernfalls erkennt es auf die erforderliche Disziplinarmaßnahme. Dabei ist es nicht befugt, auf die Anfechtungsklage des Beamten eine schärfere Disziplinarmaßnahme auszusprechen, als die Behörde es getan hat (§ 3 BremDG i. V. m. § 88 VwGO).Rn. 32
Nach diesen Grundsätzen verbleibt es hier bei dem von der Senatorin für Bildung und Wissenschaft ausgesprochenen Verweis.Rn. 33
Die Fachkammer hält diese Maßnahme ebenfalls für angezeigt. Immerhin hat sich der Kläger bewusst - wenn auch nur für wenige Stunden - über seine Dienstleistungspflicht als Beamter hinweggesetzt, um sich die private Teilnahme an einem Warnstreik zu ermöglichen. Er hat damit vorsätzlich eine beamtenrechtliche Grundpflicht verletzt und nicht nur einen Formalverstoß begangen. Die Pflichtverletzung hat unmittelbar zu einem entsprechenden Unterrichtsausfall geführt. Unter diesen Umständen verlangt das öffentliche Interesse an einer ungeschmälerten Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes, dem Kläger durch einen förmlichen Verweis zu verdeutlichen, dass er als Beamter dienstlichen Grundpflichten gegenüber privaten Interessen im Kollisionsfall den Vorzug geben muss.Rn. 34
Zwar liegt das Unterrichtsversäumnis des Klägers inzwischen über drei Jahre zurück. Auch lässt sich den vorliegenden Akten nicht entnehmen, dass der Kläger zwischenzeitlich erneut unentschuldigt dem Dienst fern geblieben wäre. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es in Zukunft zu ähnlichen Kollisionen von beamtenrechtlichen Grundpflichten und gewerkschaftlichem Engagement des Klägers kommen kann.Rn. 35
Auf eine förmliche Pflichtenmahnung kann auch nicht im Hinblick auf § 9 BBesG verzichtet werden. Denn diese Vorschrift, die den Verlust der Dienstbezüge für die Zeit eines schuldhaften Fernbleibens vom Dienst regelt, beinhaltet lediglich eine besoldungsrechtliche Rechtsfolge für die Vergangenheit. Sie dient aber nicht dazu, geordnete dienstliche Abläufe für die Zukunft zu gewährleisten.Rn. 36
Erscheint es somit angebracht, auf die Verletzung der Dienstleistungspflicht mit der Erteilung eines Verweises zu reagieren, so bedarf es hier keiner Prüfung, ob daneben weitere Pflichtverletzungen oder maßnahmeverschärfende Gesichtspunkte vorliegen. Da es sich vorliegend um eine Anfechtungsklage handelt, ist die Fachkammer nämlich nicht befugt, eine schärfere Disziplinarmaßnahme auszusprechen, als die Behörde es getan hat (§ 3 BremDG i. V. m. § 88 VwGO).Rn. 37
6. Die Fachkammer lässt die Berufung gemäß § 3 BremDG i. V. m. §§ 124a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu. Die Rechtssache hat nach Auffassung der Fachkammer grundsätzliche Bedeutung, soweit über die Frage entschieden worden ist, dass Art. 11 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR die Bindung der Fachgerichte nach Art. 31 BVerfGG an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Streikverbot der Beamten nicht schmälern.Rn. 38
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 76 Abs. 4 BremDG i. V. m. § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 3 BremDG, 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 ZPO.Rn. 39