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Florian Albrecht*: Rezension – VVDStRL 70, Der Schutzauftrag des Rechts, 2011

ZVR-Online Dok. Nr. 50/2012 – online seit 08.10.2012

VVDStRL (Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer) 70
Der Schutzauftrag des Rechts
Walter de Gruyter GmbH & Co. KG
Berlin/Boston 2011
609 Seiten
ISBN 978-3-11-024854-8
129,95 €

An der Universität Passau befassen sich gegenwärtig im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs 1681 „Privatheit. Formen, Funktionen und Transformationen“ junge Nachwuchswissenschaftler interdisziplinär mit aktuellen Fragestellungen rund um das Thema „Privatheit“. Zielsetzung des Kollegs ist eine möglichst umfassende Rekonstruktion des Privatheitskonzeptes mit dem Ziel einer integrativen Theorie, die Parameter von Privatheit beschreibt und deren Interaktion nachvollziehbar macht.Rn. 1
Diese aktuelle Entwicklung gibt Anlass, den Blick zurück auf die 70. Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer e.V. zu werfen, die in der Zeit vom 29.09.2010 bis zum 02.10.2010 an der Berliner Humboldt-Universität stattfand. Die Themen und der Diskussionsverlauf der Jahrestagung, die sich dem „Schutzauftrag des Rechts“ widmete, finden sich in der Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 70 dokumentiert. Der Tagungsband enthält acht Berichte zu vier Themenstellungen sowie Mitschriften der hieran anknüpfenden Diskussionen.Rn. 2
Im Einzelnen handelt es sich hierbei um die Themenkomplexe „Grundrechtsschutz der Privatheit“, „Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen“, „Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht“ und „Schutz der Verbraucher durch Regulierungsrecht“. Im Rahmen der vorliegenden Rezension wird allein auf die ersten beiden Referate von Nettesheim und Diggelmann eingegangen, die sich dem Beratungsgegenstand „Grundrechtsschutz der Privatheit“ widmeten.Rn. 3
Nettesheim definiert Privatheit als Lage, „in der wir dem Zugriff der anderen nicht umstands- und willenlos ausgesetzt sind“ (S. 8). Mittels der Privatheit werden Sphären und Räume abgegrenzt und Macht-, Kontroll- und Zugangsbefugnisse geregelt (S. 8). Diese gesellschaftliche Konstruktion der Privatheit erachtet er unter den gegenwärtigen Bedingungen moderner Technologien und des Internets vor allem durch den Voyeurismus, der sich zur zentralen kulturellen Erscheinung entwickelt, bedroht (S. 10).Rn. 4
Der Referent zeigt auf, wie sich das Verständnis von Privatheit und der verfassungsrechtliche Schutz in den letzten Jahrzehnten verändert haben (S. 14 ff.). Er betont, dass das staatliche Strafverfolgungsinteresse der Privatheit gem. der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorgeht (S. 20). Im Rahmen einer „Dogmatikanalyse“ setzt sich Nettesheim kritisch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Privatheit auseinander (S. 21 ff.) und zieht so bspw. die Schlussfolgerung, dass im Kontext der Entscheidung des Gerichts zur Vorratsdatenspeicherung der Eingriffsbegriff überdehnt wurde. So liege die Anordnung der Speicherung von Daten bei einem Telekommunikationsdienstleister noch unterhalb einer fühlbaren Eingriffsschwelle (S. 26). Auch zu anderen „freiheitsperspektivischen“ Entscheidungen äußert er sich kritisch.Rn. 5
Bezüglich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Schutzpflichten stellt Nettesheim fest, dass der Grenzverlauf zwischen Privatheit und Öffentlichkeit „durch eine Abwägung zwischen dem Verfügungsanspruch des Einen und dem Freiheitsanspruch des Anderen“ bestimmt werden soll (S. 32).Rn. 6
Desweiteren stellt der Referent seine Forschungsansätze und Vorschläge zur Reform bzw. Ersetzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung vor, das seiner Auffassung nach dem sich vollziehenden kulturellen Wandel nicht mehr uneingeschränkt angepasst werden kann (S. 33 ff. und S. 108 f.). Nettesheim fordert „die Einführung einer neuen Rechtsposition, die an die Stelle der informationellen Selbstbestimmung tritt“ (S. 109). Hierbei soll es sich nicht um ein Freiheitsrecht, sondern vielmehr um einen Anspruch handeln, „mit dem in der sozialen Umwelt bestimmte Verhaltensweisen untersagt werden können“ (S. 109).Rn. 7
Diggelmann verweist zu Beginn seiner rechtsvergleichenden Ausführungen auf den relativ ungesicherten Status des grundrechtlichen Privatheitsschutzes. Bemerkenswert sei, dass selbst hoch entwickelte Grundrechtssysteme bislang keine explizite Garantie eines Rechts auf Privatheit aufweisen. Geschützt würden lediglich Aspekte der Privatsphäre (S. 52).Rn. 8
Der thematischen Zuleitung folgt eine Beschreibung aktueller Entwicklungen. Der Referent weist auf die Technikentwicklung und die hieraus folgenden Risiken für das Private hin. Zutreffend betont er, dass insbesondere die Möglichkeiten der Vernetzung von Datenbanken und vielfältige Möglichkeiten der Informationsgewinnung zum Risiko für die Privatheit werden (S. 54 f.). Als Grundlegendes Problem verortet Diggelmann hierbei, dass „die Kumulation vieler für sich genommen geringer Zugriffe die Privatheit verändert und einen diffus wahrnehmbaren Konformitätsdruck erzeugt.“ (S. 55)Rn. 9
Als weiterer Risikofaktor wird sodann u.a. die Wissensentwicklung ausgemacht. Die zunehmende wissenschaftliche Erschließung bislang unbekannter Folgen privaten Verhaltens ziehe eine Bewertung der untersuchten Verhaltensweisen als positiv oder negativ nach sich (S. 56 f.). Hierdurch wachse der Druck, das private Verhalten gesellschaftlich zu steuern. „Der Staat wird auf den Plan gerufen und nimmt sich – gewissermaßen als ‚Wissensvollstrecker‘ – immer neuer, ursprünglich als Privatsache betrachteter Lebensbereiche an. Er gebietet, verbietet und mahnt. Die Grenze zwischen Staat und staatsfreier Zone wird verschoben.“ (S. 57).Rn. 10
Dem Problemaufriss folgt eine vergleichende Darstellung möglicher grundrechtlicher Schutzkonzepte. Diggelmann macht dabei eine Gegenüberstellung der Konzepte von EMRK und US-Verfassung zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen (S. 62). Als Hauptdifferenz führt er den unterschiedlichen Umgang der Schutzkonzepte mit Handlungen an, die dem Bereich der „öffentlichen Privatheit“ zuzurechnen sind und somit außerhalb des eigenen Heimes stattfinden (bspw. Spaziergänge und Autofahrten). Während die EMRK einen substantiellen Schutz des Privaten im öffentlichen Raum kenne (S. 67) würde mittels des US-Verfassungsrechts im öffentlichen Bereich ein „Feld für das freie Spiel der Kräfte“ geschaffen (S. 66).Rn. 11
Der letzte Teil des Beitrags widmet sich dogmatisch-regulatorischen Fragen. „Grundprobleme und allfällige Lösungsansätze werden in den zentralen Elementen skizziert und zur Diskussion gestellt.“ (S. 71) Hierzu gehören u.a. die Zunahme heimlicher Eingriffe (S. 73 f.) und die wachsende Gefährdung der Privatheit durch Unternehmen und andere nicht dem Staat zuzurechnende Organisationen.Rn. 12
Im Anhang des Werkes finden sich neben einem Verzeichnis der Redner der Jahrestagung 2010 (nebst Fundstellen) eine Auflistung der Mitglieder (ständige Aktualisierung unter www.staatsrechtslehrer.de) sowie eine Abschrift der Satzung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer e.V. Über ein Schlagwortverzeichnis verfügt die Tagungsdokumentation leider nicht.Rn. 13
Juristische Tagungsmitschriften sind keine Lehrbücher. Eine Anschaffung lohnt sich daher weniger für Studenten und Rechtsanwälte, die lediglich einen ersten Einblick in das Tagungsthema gewinnen möchten. Für die Wissenschaft und all diejenigen, die eine eingehende Analyse suchen oder einen innovativen Blick auf aktuelle Fragestellungen werfen wollen, ist der Griff zu VVDStRL 70 allerdings unerlässlich.Rn. 14
Fußnoten

* Florian Albrecht, M.A., ist Akademischer Rat a.Z. und Geschäftsführer der Forschungsstelle für IT-Recht und Netzpolitik (For..Net) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht (Prof. Dr. Dirk Heckmann), Universität Passau.