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Dr. Frank Braun*: Rezension – Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage 2012

ZVR-Online Dok. Nr. 53/2012 – online seit 17.10.2012

Lisken/Denninger
Handbuch des Polizeirechts
5. neu bearbeitete und erweiterte Auflage
C.H. Beck Verlag
München 2012
1538 Seiten
ISBN 978-3-406-63247-1
135 €

„Gott sei Dank! Es ist aber auch Zeit geworden.“, will man mit dem Erscheinen der fünften Auflage des nach dem Tode von Hans Lisken im Jahre 2004 nun von Erhard Denninger und Frederik Rachor allein herausgegebenen Werkes meinen. Schließlich hat sich viel getan in den sechs Jahren nach Erscheinen der vierten Auflage dieses „Standardwerkes“ (Muckel, Die Verwaltung 10/2001) und „Klassiker“ (Seidl, Verwaltungsrundschau 10/2012) zum Polizeirecht. Zahlreiche Änderungen in den Polizeigesetzen der Länder (etwa in Nordrhein-Westfalen) sowie grundlegende Äußerungen der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts (etwa zur sog. Online-Durchsuchung und des in dieser Entscheidung neu formulierten „Computergrundrechts“) wollten eingearbeitet werden. Zudem waren aktuelle Fragen der deutschen „Sicherheitsarchitektur“ schärfer zu beleuchten. Dabei knüpfen die Autoren konsequent an die bereits in der vierten Auflage eingeschlagene Schwerpunktsetzung an, wenn der Ausbau der Prävention durch polizeiliche Maßnahmen im Gefahrenvorfeld, der Einsatz technischer Mittel zur heimlichen Informationserhebung sowie die Zusammenarbeit von Geheimdiensten, Polizeibehörden und Strafverfolgungsorganen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung ausführlich, überaus sachkundig und auch zu Recht kritisch behandelt werden.Rn. 1
Letzterer Themenbereich wird in der vorliegenden fünften Auflage in einem eigenen Kapitel (H.) abgehandelt. Der neu hinzugekommene Autor Nils Bergemann befasst sich auf gut 60 Seiten gesondert mit dem Thema „Nachrichtendienste und Polizei“. Dass dies notwendig ist, zeigt sich nicht nur seit der unsäglichen „NSU-Affäre“, die auf die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder kein gutes Licht wirft. Schließlich ist das Recht der Geheimdienste so wenig durchdrungen, wie kaum ein anderer Bereich des Sicherheitsrechts. Schon allein deswegen stellen die Ausführungen von Bergemann einen Gewinn dar. Bis auf das Handbuch des Verfassungsschutzrechts von Bernadette Droste und wenigen, meist sich speziellen Themenbereichen widmender Einzelschriften gibt es kaum Literatur, anhand der sich ein – „handfester“ – Überblick über das Recht der Geheimdienste verschaffen lässt. Der völlig unklare und nahezu beliebig interpretierbare Gesetzestext (Bergemann bringt die Bestimmtheitsdefizite der Regelungen in den Rn. 56 ff. auf den Punkt) macht das Recht der Geheimdienste selbst zu einem kaum durchdringbaren Geheimnis. Denn wie werden die Eingriffsbefugnisse der Dienste in der Praxis interpretiert? Die Gerichte, das liegt in der Natur der Sache, werden sich damit nicht befassen können, um Licht ins Dunkel zu bringen. Auch wird die Kultur der „geheimen Rechtswissenschaft“ bei den Verfassungsschutzbehörden hinreichend gepflegt: So sind Lehrbücher der Fachhochschule des Bundes zum Verfassungsschutzrecht Dritten unzugänglich und mit dem Aufdruck „VS nur für den Dienstgebrauch“ versehen. Freilich nicht ganz grundlos, werden doch in den Lehrbüchern auch „Dienstanweisungen“ zu den Befugnisgeneralklauseln der Verfassungsschutzgesetze abgedruckt, die Verschlusssache und so „nicht allgemein zugänglich“ (Bergemann, Rn. 77) sind. Die ganze Problematik wird klar, wenn man dazu die erhellenden Ausführungen von Bergemann zu den in den (unbestimmten) Generalklauseln gesetzlich nicht abschließend aufgezählten Methoden zur heimlichen Informationsgewinnung (Rn. 77 ff.) in den Blick nimmt, die durch besagte unzugänglichen Dienstvorschriften näher erläutert und ergänzt werden: Hier wird Recht durch geheime Dienstanweisungen ersetzt. Dass diese rechtsstaatlichen Defizite nicht durch prozedurale Schutzvorkehrungen, wie Berichtspflichten an das Parlament (dazu Gusy, Grundrechte und Verfassungsschutz, 2007) aufgefangen werden können, zeigt sich gerade in der Posse um das Informationsverhalten der Verfassungsschutzbehörden an den NSU-Untersuchungsausschuss.Rn. 2
Vor diesem Hintergrund bedarf auch die Diskussion um die im Jahre 2008 grandios gescheiterte Befugnis zur Online-Durchsuchung im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz einer Neubewertung. Unverhohlener Spott und Häme gegenüber dem beklagten Land und die Stilisierung des Bundesverfassungsgerichts zum Retter freiheitlicher Werte in den Medien erscheinen rückblickend übertrieben. Überspitzt formuliert: Der größere Verdienst für den Rechtsstaat ist dem gescholtenen Gesetzgeber des (eindeutig) verfassungswidrigen Gesetzes zuzubilligen und nicht dem Gericht, das den Verstoß festgestellt hat. Warum? Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber hat das in gerichtlich nachprüfbares Gesetzesrecht gegossen, was nach den „geheimen“ Dienstanweisungen des Verfassungsschutz des Bundes schon längst als zulässige Methode „heimlicher Informationsbeschaffung“ erkannt war (und zwar wie gemunkelt wird: nahezu wortlautgleich). Bergemann stellt in Rn. 80 trocken fest, dass nach einem Bericht des Parlamentarischen Kontrollgremiums diese Dienstvorschrift des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Grundlage der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung entsprechend überarbeitet wurde. Wäre das aber nun auch geschehen, wenn der nordrhein-westfälische Gesetzgeber diese Dienstvorschrift nicht in gerichtlich nachprüfbares Gesetzesrecht gebracht und damit demokratischer Willensbildung gegenüber der üblichen Geheimniskrämerei den Vorzug gegeben hätte? Man mag dies doch bezweifeln. Dagegen einzuwerfen, man hätte dennoch auf die Durchführung einer umstrittenen Online-Durchsuchung verzichtet, verfängt. Was von einer in derartigen Fällen oftmals strapazierten „Redlichkeitsvermutung“ zugunsten der verantwortlichen Amtsträger zu halten ist, hat Lisken an anderer Stelle des Handbuchs („Die Redlichkeit gewährleistet nicht die Richtigkeit“, Kap. B. Rn. 204) auf den Punkt gebracht.Rn. 3
Besonders gelungen ist auch Kapitel G, Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafverfahrensrecht, das von Thomas Petri, dem bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz, in beeindruckender Sachkenntnis bearbeitet wurde. Ohne sich in Quisquilien zu verzetteln (was angesichts des breiten Spektrums der Thematik, der Komplexität der Rechtsfragen und der bisweilen kaum mehr überschaubaren Literatur zu den einzelnen Sachfragen kein leichtes Unterfangen ist) werden die rechtlichen Grundlagen der polizeilichen Informationsbeschaffung für Wissenschaft und Praxis gleichermaßen von Gewinn aufbereitet. So sind etwa die Datenverarbeitung in für den Laien kaum mehr überschaubaren polizeilichen Dateien klar und verständlich erläutert und die präventiven und repressiven Ermächtigungsgrundlagen zur Datenerhebung mit „besonderen technischen Mitteln“ (Lauschangriff, Online-Durchsuchung, Telekommunikationsüberwachung, Kfz-Kennzeichenscreening, IMSI-Catcher-Einsatz usw.) mit all ihren Friktionen und teils offensichtlichen Mängeln differenziert dargestellt. Leichten Zugriff auf die komplexe Materie erhält der Leser durch die der Abhandlung der Einzelbefugnisse vorangestellte Erläuterung des verfassungsrechtlichen Rahmens. Die grundrechtlichen Gewährleistungen (etwa des neuen „Computergrundrechts“), der Schutz des unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung und die besonderen Anforderungen des Grundsatzes der Normenklarheit- und Bestimmtheit sowie des Verhältnismäßigkeitsprinzips werden, ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, einprägsam und unmissverständlich aufgezeigt. So wird gerade auch in Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klar, dass eine sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung einer spezifischen gesetzlichen Rechtsgrundlage bedarf (dazu auch Braun/Roggenkamp, K&R 2011, 681) und nicht auf „herkömmliche“ präventive oder repressive Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung gestützt werden kann, wie Petri feststellt (Rn. 331 ff.). Wären diese Ausführungen schon zum Redaktionsschluss der fünften Auflage Ende des Jahres 2011 öffentlich zugänglich gewesen, wäre die Unhaltbarkeit einiger politischer Äußerungen in der „Staatstrojaner-Affäre“ noch offensichtlicher zu Tage getreten.Rn. 4
Ein Eingehen auf die Übrigen Kapitel des Handbuches („A. Geschichte der Polizei in Deutschland“, „B. Die Polizei im Verfassungsgefüge“, „C. Organisation der Sicherheitsbehörden in Deutschland“, „D. Polizeiaufgaben“, „E. Das Polizeihandeln“, „F. Polizeihandeln im Strafverfahren“, „G. Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafverfahrensrecht“, „H. Nachrichtendienste und Polizei“, „J. Gefahrenabwehr durch Ordnungsverwaltung“, „K. Versammlungsrecht“, „L. Rechtsschutz“, „M. Ausgleichs- und Ersatzansprüche des Bürgers“, „N. Haftung für Polizeikosten“ und „O. Polizeihandeln auf Ebene der Europäischen Union“) würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. Nur soviel: Die einzelnen Punkte sind von dem erfahrenen und gut zusammengesetzten (5 Staatsrechtslehrer, 2 „Datenschützer“ und 5 „Praktiker“ aus Polizei und Justiz[1]) Autorenteam gewohnt routiniert und fachkompetent bearbeitet. Gesonderten Hinweis bedarf das von Reinhard Mokros bearbeitete Kapitel „Polizeihandeln auf Ebene der Europäischen Union“, das – auf eine höhere Abstraktionsebene gesetzt – gegenüber der Vorauflage eine völlige Neubearbeitung erfahren hat und dadurch deutlich gewinnt.Rn. 5
Natürlich kann das Handbuch des Polizeirechts nicht ganz ohne Worte von Hans Lisken auskommen (B. VII und VIII), der als unermüdlicher „Streiter für den Rechtsstaat“ (Prantl, SZ v. 07.02.2004, S. 9) das Werk ganz erheblich geprägt hat. Seine Ausführungen zur „Polizei und die ‚guten Sitten‘“ bilden zusammen mit der von Erhard Denninger neu verfassten Abhandlung zur „rechtsstaatlichen und demokratischen Funktion der Polizei“ (B. I.) quasi das „freiheitliche Manifest“, das die rechtspolitische Grundhaltung, die das ganze Werk (je nach Autor unterschiedlich stark) durchzieht, aufzeigt und vor die Klammer gezogen als „Leitmotiv“ erklingen lässt. Die „humanistisch-demokratische Gesinnung“, die das Werk kennzeichnet, ist so deutlich zu erkennen. Und das ist gut so. Schließlich kann – so jedenfalls nach Auffassung des Autors – gar nicht häufig genug vor dem Wandel des liberal-demokratischen Rechtsstaates in einen Präventions- und Sicherheitsstaat gewarnt werden. Der „Wissenschaftlichkeit“ des Werkes schadet die eindeutige Positionierung jedenfalls nicht. Stets wird in angemessenen Umfang auch auf Gegenauffassungen aus Literatur und Rechtsprechung in dem umfangreichen Fußnotenapparat hingewiesen.Rn. 6
Natürlich kann und muss man der vorgegebenen Richtung nicht stets folgen. Einen Vorwurf beinhaltet dies nicht. Schließlich kann es einerseits, wie Rüthers feststellt (Rechtstheorie, 4. Aufl. 2008, Rn. 385), weder eine geschichtslose, noch unpolitische Rechtsanwendung geben. Zum anderen, und das mag man durchaus bedauern, fehlt ein „konservativer“ Gegenentwurf, der es mit dem vorliegenden Werk aufnehmen könnte. Schließlich belebt die Konkurrenz das Geschäft. Und so ist es doch Schade, dass aus dem konservativeren Lager der Polizeirechtslehrer noch keiner die Kraft gefunden hat, ein ähnlich ambitioniertes Werk anzugehen.Rn. 7
Zu kritisieren gibt es wenig. Es sei aber darauf hingewiesen, dass sich im Register der eine oder andere Fehler eingeschlichen hat (Beispiel: beim Stichwort „automatisierte Kfz-Kennzeichenerfassung“ wird man auf Kap. G Rn. 538 ff. gelotst; dort findet sich indes zum besagten Thema nichts, sondern erst gut 20 Randnummern später). Das mag jetzt kleinkariert klingen. Aber schließlich werden Handbücher, wie das vorliegende, überwiegend als Nachschlagewerke verwendet. Da kann ein unzuverlässiges Register leicht als störend empfunden werden. Allerdings ist das Handbuch inhaltlich so gut gelungen, dass man sich, wie der Verfasser zu seinem Vergnügen feststellen konnte, des Öfteren beim Nachschlagen „festliest“.Rn. 8
Als konzeptuell misslungen darf man aber mit gutem Gewissen das Kapitel J „Gefahrenabwehr durch die Ordnungsverwaltung“ bezeichnen. Die (kurzen) Skizzen zu besonderen Bereichen des Gefahrenabwehrrechts (z.B. Waffenrecht, Ausländerrecht, Straßenverkehrsrecht, Gewerberecht, Baurecht, Vereinsrecht usw.) bedürfen einer Neuordnung und Neugewichtung hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Recht der Inneren Sicherheit. Denn wer möchte heutzutage in einem Handbuch zum Polizeirecht noch einen Überblick über das Baurecht als „Sonderpolizeirecht“ lesen? (Kap. J. Teil II). Das wirkt dann doch zu „verstaubt“. Dagegen hätte man anderen Rechtsbereichen mit höherer Relevanz für die polizeiliche Praxis durchaus mehr Platz einräumen dürfen, etwa dem Waffenrecht (Kap. J Teil XI), das mit ca. 15 Druckseiten (das „überflüssige“ Baurecht hat nahezu denselben Umfang) doch recht kurz abgehandelt ist. Erfreulich ist, dass das öffentliche Vereinsrecht (Kap. J. Teil X) Berücksichtigung fand, wenn auch etwas knapp. Leider wurde die Problematik um das Verbot von Rockergruppierungen, die derzeit in der Praxis viel diskutiert wird, nicht angerissen. Vielleicht mag man dies für die Zukunft berücksichtigen. Denn die Polizei gibt bei der Bekämpfung der Rockerkriminalität, die derzeit massiv forciert wird, kein besonders gutes Bild ab (siehe dazu die Kontroverse von Knape/Knapp, Die Polizei 2012, 177 ff., und Albrecht, Die Polizei 2012, 252; ders., ZVR-Online Dok. Nr. 49). Doch damit genug.Rn. 9
Insgesamt mag man diesem absoluten Standardwerk vor allem eines Wünschen: Dass es noch größere Verbreitung in der polizeilichen Ausbildung[2] und Praxis findet. Denn gerade Institutionen wie die Polizei, die – und das soll keine Wertung beinhalten, sondern liegt vielmehr in der Natur der Sache – stets der Gefahr unterliegen, subkulturelle Züge anzunehmen, bedürfen stetiger rechtsstaatlicher Zähmung und forthaltender bürgerrechtlicher Prägung. Dies hat Hans Lisken (gerade auch als Polizeipräsident) vorgelebt. Und in dieser guten Tradition steht auch das vorliegende Handbuch. Also: Kaufen!Rn. 10
Fußnoten

* Münster/Hofkirchen.

[1]Im Einzelnen: Nils Bergemann, Hans Boldt, Erhard Denninger, Helmut Frister, Michael Kniesel, Hans Lisken, Reinhard Mokros, Thomas Petri, Ralf Poscher, Frederik Rachor, Wolfgang Sailer und Michael Stolleis.
[2]Hierfür könnte anstatt der „edlen“ Leinenausgabe eine ggf. zweibändige Aufmachung als günstigeres Paperback dienlich sein.