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Dr. Frank Braun*: Rezension – Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4: Staats- und Verwaltungswissenschaft in West und Ost 1945 – 1990, 2012

ZVR-Online Dok. Nr. 41/2012 – online seit 18.09.2012

Michael Stolleis
Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4: Staats- und Verwaltungswissenschaft in West und Ost 1945 – 1990
C.H. Beck Verlag
München 2012
720 Seiten
68 €
ISBN: 978-3406632037

Der vorliegende Band schließt das opusmagnum des emeritierten Frankfurter Rechtshistorikers und Staatsrechtslehrer Michael Stolleis ab, das die Geschichte des öffentlichen Rechts in vier Bänden und weit über zweitausend Druckseiten seit Entstehung des Staats- und Verwaltungsrechts als eigene wissenschaftliche Disziplin im 17. Jahrhundert in beeindruckender Art und Weise gerade auch für Leserschichten außerhalb des Wissenschaftsbetriebs fassbar macht. Die außergewöhnliche Leistung des Autors ist an anderer Stelle - zu Recht - bereits umfassend gewürdigt worden. In den wichtigsten überregionalen Tageszeitungen ist das Gesamtwerk und explizit der mit 720 Seiten umfangreichste Schlussband, der sich der Rechtsentwicklung in der Zeit von 1945-1990 widmet, als „großartig“ bezeichnet worden (Lamprecht, SZ v. 23.04.2012); vom „maßgeblichen rechtsgeschichtlichen Werk der Gegenwart“ ist die Rede (Anter, Die Zeit v. 15.03.2012) und von einer „herausragenden Forschungsleistung“ (Hillgruber, FAZ v. 13.08.2004).Rn. 1
Mit einer genauen Inhaltsangabe fortzufahren würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. Insoweit sei auf den Klappentext verwiesen: Der Gang der Untersuchung beginnt mit der „Stunde Null“, dem Wiederaufbau der Universitäten in West und Ost, „um dann der Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte des Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechts in beiden deutschen Staaten bis zur Wiedervereinigung zu folgen“, ohne in einem Ausblick wichtige Europäisierungs- und Globalisierungsphänomene auszusparen. Bei diesem Unterfangen fasziniert weniger die stets profunde Darstellung der historischen Entwicklung einzelner, das Staats- und Verwaltungsrecht prägender Rechtsfiguren und die Analyse derfür die dogmatische Durchleuchtung des Staatsrecht wegweisenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Muckel, JA 8/2012[1], bezeichnet aber gerade diese Passagen als besonders wertvoll für studentische Leser).Den Leser ziehen vielmehr die in unnachahmlicher Art nachgezeichneten „institutionellen Prozesse“ (Frieder, in H-Soz-u-Kult v. 18.07.2012) in den Bann. Also die Entwicklung einzelner Zeitschriften, der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer oder der juristischen Fächer und die Lehrstuhlbesetzungen an den Universitäten. Ein besonderes Bonmot ist dabei die Darstellung der gegenläufigen Ausrichtung der Zeitschriften Der Staat („Schmittianer“) und des Archiv des öffentlichen Rechts („Smendianer“), in der vorwiegend in den Fußnoten auch die persönlichen Eitelkeiten sowie die ausgesprochenen und unausgesprochenen Boshaftigkeiten der jeweiligen Protagonisten sichtbar gemacht werden.Rn. 2
Die wohl hervorragendste Leistung von Stolleis liegt in der Leichtigkeit und Verständlichkeit seiner Schreibe, ohne dafür ein Höchstmaß an Präzision aufzugeben. Die Opulenz des Bandes sollte eine interessierte Leserschaft nicht abschrecken. Das Buch vermag zu fesseln und kann „in einem Zug“ gelesen werden (was man von der üblichen rechtsgeschichtlichen Literatur wahrlich nicht behaupten kann, mit Ausnahme der Werke von Uwe Wesel), wenn man auf eine Lektüre des an barocker Fülle überbordenden Fußnotenapparats verzichtet. Verfährt man so, wird man allerdings das Buch bald wieder zur Hand nehmen und weite Teile des Fußnotenapparates studieren. Denn dieser stellt nicht - wie häufig im öffentlich-rechtlichen Schrifttum - kein Fußnotengrab dar, das auf Effekthascherei ausgerichtet ist, sondern gibt einerseits den Leser kundig und zielgerichtet weiterführende Literatur zur Vertiefung einzelner Themen an die Hand. Andererseits wird - insbesondere mittels Auszügen aus Briefwechseln –ein markantes Bild der Staatsrechtslehrer gezeichnet, das Ihre jeweiligen Eigenheiten auf den Punkt bringt. Gerade Letzteres bereitete dem Rezensenten großes Vergnügen, der selbst einige Jahre als Assistent eines Staatsrechtslehrers seine Studien zum öffentlichen Recht verrichten durfte. Trotz im Grunde größter Zurückhaltung und Distanz werden die unterschiedlichen Typen dervorwiegend sehr konservativen Kaste der Staatsrechtslehrer in ihrer unnachahmlich steifen Physiognomie treffend gezeichnet. So wird etwa ein ehemaliger Erlangener Ordinarius als „originell-kauziger und geistvoller“ Vertreter seines Faches „mit einem schmalen Œuvre“ beschrieben, der allerdings „besonders bedeutende Vertreter seines Fachs zu Habilitation“ begleitet habe. Solche Beschreibungen bereiten großes Vergnügen. Schließlich hatte mit ähnlich attributierten Professoren nahezu jeder Student der Rechtswissenschaften zu tun. Unter anderem der Rezensent, der zur rechtshistorischen Einführungsvorlesung zu unchristlicher Zeit um 7 Uhr morgens von einem ähnlichen Charakter gerufen wurde - jedenfalls was die Kauzigkeit und das schmale Œuvrebetrifft (nicht einmal seine Habilitationsschrift wurde veröffentlicht). Das soll heißen: Auch für Klatsch und Tratsch – eine nahezu lebensnotwendige Bedingung für das soziale Miteinander an rechtswissenschaftlichen Fakultäten - ist gesorgt.Rn. 3
Schon einer literarischen Kunstfigur gleich ist das unvermeidbare Auftreten Carl Schmitts bei Stolleis, der auch die Nachkriegszeit in seinem staatsphilosophischen Denken wesentlich geprägt hat. Wenn auch nicht durch seine in diesem Zeitraum alsbald versiegende schriftstellerische Tätigkeit, sondern vielmehr durch seine zahlreichen Schüler und Bewunderer, allesamt große Namen des deutschen Staatsrechts. So muss, wenn man von den Leistungen Böckenfördes, Quaritschs oder Mußgnug spricht, häufig auch der Name Schmitt fallen. Doch nicht nur das: Ähnlich, wie in seinem selbst gewählten Exil im westfälischen Plettenberg, lässt Stolleis Schmitt regelmäßig seine teils boshaften und ätzenden Kommentare aus dem Fußnotenapparat hinauf zur Haupthandlung hallen. Das ist großartig. Freilich, und das bestätigt mittelbar auch der vorliegende Band, war und ist der Einfluss Schmitts auf die Staatsrechtslehre immens. Letztlich hat sich die Einschätzung seines „Freundes“ Ernst Jünger (in Autor und Autorschaft, Sämtliche Werke Bd. 19, 1999, S. 199) bestätigt: „Das fünfte Rad am Wagen und vielleicht das einzige, das posthum weiterläuft.“Rn. 4
Soweit Stolleis von anderer Seite bei mancher Themenbehandlung aufgrund seiner persönlichen Rolle in der Historie ein Mangel an „kritischer bzw. selbstkritischer Distanz“ vorgeworfen wird (Hillgruber, SZ v. 13.08.2012) und er im Ergebnis „keinen Zweifel lasse, welche Seite die richtige war und ist“, so verfängt dies. Einerseits lässt die Darstellung trotz einiger impliziter wertender Stellungnahmen genügend Raum für die Bildung eigener Anschauungen und eine ausgewogene Meinungsbildung, wie der Rezensent selbst, der sich eher der von Stolleis nicht gerade favorisierten (katholisch) konservativen Staatsrechtslehre verpflichtet fühlt, bestätigen kann. Andererseits bleibt Stolleis auch in seinem Unternehmen der rechtsgeschichtlichen Rückbetrachtung selbst Staatsrechtslehrer, was nichts anderes heißt, als dass er notgedrungen auch „politisch“ ist. Denn eine Trennung zwischen politischen und unpolitischen Staatsrechtslehrern, wie der Autor an mehreren Stellen des Werkes treffend hinweist, ist nicht möglich. Das heißt, alle sind zwangsweise „politisch“.Rn. 5
Und so soll sich jeder sein eigenes Bild machen können, wozu das Werk häufig und manchmal etwas versteckt einlädt. Jeder am öffentlichen Recht interessierte sollte den Band in seinem Bücherschrank stehen haben und regelmäßig einen Blick hineinwerfen. Dann findet man vielleicht etwa in Fn. 74 des vierten Kapitels eine Äußerung von G. Dürig aus dem Jahre 1972, die man vor dem Hintergrund des heutigen Zustandes der Bundesrepublik Deutschland sicher ganz unterschiedlich bewerten kann. Jedenfalls kann man darüber nachdenken. Dort heißt es: „Wenn man nämlich im Demokratisierungsrausch erst einmal alle Lebensbereiche demokratisiert, potentiell öffentlich, politisch gemacht hat, wenn Staat und Gesellschaft deckungsgleich werden, dann, meine Herren, gehen mal wieder die Lichter aus.“Rn. 6
 
Fußnoten

* Dr. Frank Braun, Münster/Hofkirchen.