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VG Koblenz, Urt. v. 26.04.2012 – 7 K 619/11.KO – „Bewertung einer in Verstoß geratenen Klausur“

ZVR-Online Dok. Nr. 32 – online seit 17.08.2012

Art 3 Abs. 1 GG, Art. 12 GG

Leitsätze der Redaktion

1. Wenn eine schriftliche Arbeit ohne Verschulden des Prüflings verloren geht, besteht ein Anspruch des Betroffenen auf eine erneute Prüfung ohne Anrechnung auf die Wiederholungsmöglichkeit.Rn. 1
2. Aufgrund von verfassungsrechtlichen Schutzpflichten ist es verboten, einem Prüfling den Besitz der erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten allein deshalb zu bescheinigen, weil die Prüfungsarbeit verloren gegangen ist.Rn. 2

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, eine verlorengegangene Klausur als bestanden zu bewerten.Rn. 3
Er studiert am Zentrum für Fernstudien und universitäre Weiterbildung der beklagten Universität im Fernstudiengang Energiemanagement. Am 13. November 2009 erstellte er - als Wiederholer - im Modul 4 (Rationelle Energieanwendung) eine Klausur, die verlorenging. Daraufhin teilte die Beklagte mit Schreiben vom 11. Mai 2010 mit, dass der Kläger wegen des Verlustes der Prüfungsarbeit einen Anspruch auf die Fertigung einer neuen Arbeit habe. Eine Bewertung ohne vorliegende Unterlagen sei nicht zulässig und dem klägerseits geäußerten Wunsch, die Prüfung einfach als bestanden zu erklären, könne nicht entsprochen werden. Man komme ihm aber bei der Erstattung der Kosten für die Wiederholung der Prüfung entgegen.Rn. 4
Unter dem 10. Juni 2010 stellte der Kläger den förmlichen Antrag, die Prüfung als bestanden zu bewerten. Aufgrund seiner Prüfungsleistungen sei davon aus-zugehen, dass er die Note „Gut“ erhalten hätte, was bei der Entscheidung der Beklagten berücksichtigt werden müsse.Rn. 5
Unter dem 10. Februar 2011 verwies die Beklagte auf ihr Schreiben vom 11. Mai 2010, wonach eine Bewertung der Nachklausur vom 13. November 2009 im Modul 4 nicht mit „bestanden“ erfolgen könne. Der Kläger könne hiergegen Widerspruch einlegen.Rn. 6
Mit Schreiben vom 14. März 2011 legte der Kläger gegen die Bescheide der Beklagten vom 11. Mai 2010 und vom 10. Februar 2011 Widerspruch ein.Rn. 7
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2011, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 15. Juni 2011, wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei die Bewertung einer abhanden gekommenen Prüfungsarbeit nicht möglich; es bestehe allein ein Anspruch auf erneute Ablegung der Prüfung. Dies gelte grundsätzlich auch für den Fall, dass sich die Prüfungsarbeit zum Zeitpunkt des Verlustes im Gewahrsam der Behörde befunden habe.Rn. 8
Mit seiner am 13. Juli 2011 erhobenen Klage beantragt der Kläger,

den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2010, den Bescheid im Schreiben der Beklagten vom 10. Februar 2011 und den Wider-spruchsbescheid vom 10. Juni 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die am 13. November 2009 erstellte Klausur im Modul 4 „Rationelle Energieanwendung“ als bestanden zu bewerten.
Rn. 9
Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.
Rn. 10
Auf Antrag der Beteiligten hat das Gericht mit Beschluss vom 27. Juli 2011 im Hinblick auf die Bereitschaft des Klägers, die Klausur im Modul 4 erneut zu schreiben, das Ruhen des Verfahrens bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses der Korrektur dieser Klausur, längstens bis zum 20. Dezember 2011, angeordnet. Die Beklagte hat unter dem 24. November 2011 mitgeteilt, dass der Kläger die Klausur zwischenzeitlich mit der Note „Gut“ bestanden habe.Rn. 11
Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ein-verstanden erklärt.Rn. 12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens, der Verfahren 7 K 186/11.KO, 7 K 250/11.KO und 7 K 260/12.KO sowie 2 Hefte Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese Unter-lagen haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.Rn. 13

Entscheidungsgründe

Die Klage, über welche die Kammer im Einverständnis der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, hat keinen Erfolg.Rn. 14
Es kann zunächst offenbleiben, ob das Verpflichtungsbegehren noch mit Rechtsschutzinteresse verfolgt werden kann, nachdem der Kläger die Klausur im Modul 4 nachgeschrieben und mit der Note „Gut“ bestanden hat. Denn die Klage erweist sich in jedem Falle als unbegründet, da kein Anspruch darauf besteht, dass die Beklagte die in Verstoß geratene Klausur im Modul 4 als bestanden bewertet.Rn. 15
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine fiktive Bewertung von Leistungen nicht möglich ist. Gegenstand der Bewertung können nur die tatsächlich und eigenverantwortlich vom Prüfling erbrachten Leistungen sein. Das gilt auch dann, wenn eine schriftliche Arbeit ohne sein Verschulden abhandengekommen ist. In diesem Falle besteht indes ein Anspruch auf eine erneute Prüfung ohne Anrechnung auf die Wiederholungsmöglichkeit.Rn. 16
Das ergibt sich zum einen aus allgemeinen prüfungsrechtlichen Grundsätzen, die als Grundlage der Bewertung eine tatsächlich erbrachte Leistung fordern. Ohne einen solchen Bezugsgegenstand kann begrifflich keine Bewertung erfolgen. Darüber hinaus würde es gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundsatz der prüfungsrechtlichen Chancengleichheit verstoßen, wenn im Gegensatz zu den übrigen Prüflingen bei einem Kandidaten eine fiktive Leistung anerkannt würde. Schließlich bleibt zu sehen, dass der Nachweis einer bestimmten beruflichen Qualifikation dem Schutz von Gemeinschaftsgütern dient und ihn im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG rechtfertigt. Diese Schutzpflicht verbietet es, einem Prüfling den Besitz der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten allein deshalb zu bestätigen, weil - auch wenn dies auf einem Fehler der Prüfungsbehörde beruhen sollte - die Prüfungsarbeit verlorengegangen ist (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2003 - 6 B 10/03 -, nach juris; Niehues/Fischer, Prüfungsrecht, 5. Aufl. 2010, Rdnrn. 616, 632; Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 3. Aufl. 2007, Rdnr. 1232).Rn. 17
Die Nebenentscheidungen folgen aus § 154 Abs. 1, § 167 VwGO.Rn. 18