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Robert Gmeiner: Die Anwendbarkeit des § 183 VwGO auf bestandskräftige Verwaltungsakte

ZVR-Online Dok. Nr. 14/2017 – online seit 26.09.2017

I. Einleitung

Wird im Rahmen einer landesverfassungsrechtlichen prinzipalen[1] Normenkontrolle eine Norm für nichtig erklärt, so bleiben verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die auf der nichtigen Norm beruhen, nach § 183 S. 1 VwGO unberührt. Über das Schicksal bestandskräftiger Verwaltungsakte besagt diese Vorschrift nichts. Nach der in Rechtsprechung und Literatur ganz vorherrschenden Meinung ist § 183 S. 1 VwGO auf bestandskräftige Verwaltungsakte entweder analog[2] oder der darin zum Ausdruck kommende allgemeine Rechtsgedanke[3] anwendbar.Rn. 1
Obwohl die Vertreter erkennen, dass sie praeter legem auslegen, rechtfertigen sie ihre Ansicht in methodischer Hinsicht nicht. Im Rahmen dieses Beitrags soll gezeigt werden, dass die Methodenlehre einer analogen Anwendung des § 183 S. 1 VwGO auf bestandskräftige Verwaltungsakte ebenso entgegensteht, wie der Rückgriff auf einen in § 183 VwGO enthaltenen allgemeinen Rechtsgedankens.Rn. 2

II. Vorliegen der Analogie-Voraussetzungen?

Voraussetzung für eine Analogie ist eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage.[4] Sofern bei der Frage nach der analogen Anwendbarkeit des § 183 VwGO überhaupt auf die Analogievoraussetzungen eingegangen wird, wird nur aufgrund der bundesstaatlichen Kompetenzordnung das Vorhandensein einer planwidrigen Regelungslücke bestritten.[5] Ob diese Argumentation tragfähig ist, erscheint fragwürdig. Besonders zweifelhaft erscheint die These Pietzners, dass die Kompetenzordnung zu einer bewussten „Selbstbeschränkung des Gesetzgebers“ führe.[6] Ungeachtet der Tatsache, dass der Bundesgesetzgeber selbst mehrfach gegen die Kompetenzordnung verstoßen hat,[7] ist es hochspekulativ ohne Anknüpfungspunkt im Gesetz oder in den Gesetzesmaterialien von einer bewussten gesetzgeberischen Entscheidung auszugehen.[8]Rn. 3
Auch wenn dem Bund die Normsetzungskompetenz fehlt, kann dies nichts an dem Befund ändern, dass eine Rechtsfrage nicht positivrechtlich geregelt ist. So kann die Kompetenzordnung allein ein Analogieverbot begründen; die Analogievoraussetzungen entfallen deshalb nicht. Auf die Bedeutung dieser Trennung wird noch sogleich zurückzukommen sein.Rn. 4
Jedenfalls fehlt es an einer vergleichbaren Interessenlage. Ein Verwaltungsakt wird bestandskräftig, wenn er nicht mehr mit den gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsbehelfen, insbesondere Widerspruch und Anfechtungsklage, angegriffen werden kann.[9] Lässt der Adressat eines Verwaltungsaktes diesen bestandskräftig werden, indem er auf die Verwaltungsrechtsschutz verzichtet, ist er (grundsätzlich) weniger schutzwürdig als einer, der Verwaltungsrechtschutz sucht. Letzterer gibt zu erkennen, dass er von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes überzeugt ist, bzw. zumindest Zweifel an der Rechtmäßigkeit hat. Wird die Norm, auf welcher der Verwaltungsakt beruht, nachträglich vom Landesverfassungsgericht für nichtig erklärt, wird der klagende Adressat in seiner Rechtsauffassung bestätig. Für Strafverfahren hält § 79 Abs. 1 BVerfGG einen besonderen Wiederaufnahmegrund bereit. Durch die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG, dem § 183 VwGO nachgebildet wurde,[10] wird verdeutlicht, dass der Wiederaufnahmegrund ausschließlich für Strafverfahren gilt; andere Gerichtsverfahren bleiben hiervon unberührt.[11] § 183 S. 1 VwGO schließt daher die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 579 f. ZPO ausdrücklich aus. Der stillhaltende Verwaltungsaktadressat dagegen fügt sich dem Verwaltungsakt; entweder geht er selbst von der Rechtmäßigkeit aus oder er kann – umgangssprachlich gesprochen – mit der Rechtswidrigkeit leben. Es ist kein Grund ersichtlich, über die Möglichkeiten einer Wiederaufnahme des Verfahrens eines Nichtprozessierenden überhaupt zu diskutieren. Von einer Vergleichbarkeit der Interessen kann daher keine Rede sein.Rn. 5

III. § 183 S. 1 VwGO als allgemeiner Rechtsgrundsatz?

Ein Teil der Literatur lehnt die analoge Anwendung des § 183 S. 1 VwGO ab und sieht in der Norm stattdessen einen allgemeinen Rechtsgedanken, der auf bestandskräftige Verwaltungsakte anwendbar sei. Eine methodische Begründung dieser Ansicht sucht man vergeblich. Dies überrascht nicht, da dies widerspruchsfrei kaum möglich sein dürfte. Die Figur des allgemeinen Rechtgedankens darf – ebenso wie die Analogie – nur zur Lückenfüllung herangezogen werden.[12] Lehnt man eine Analogie mangels Regelungslücke ab, kann kein Raum mehr für die Bejahung einer Regelungslücke als Voraussetzung zur Bildung eines allgemeinen Rechtsgedankens bleiben. Dieser offenkundige Widerspruch wird von den Vertretern der herrschenden Meinung nicht gesehen, geschweige denn aufgelöst.Rn. 6
Ein allgemeiner Rechtsgedanke liegt nur dann vor, wenn nachgewiesen werden kann, dass die normative Aussage im positiven Recht angelegt ist.[13] Die Gesetzgebungskompetenz für die Bestimmung des Schicksals eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes, der auf einer verfassungswidrigen Norm beruht, liegt bei der gesetzgebenden Körperschaft, welche die allgemeine Regelungsbefugnis für Verwaltungsakte besitzt. Für das BVwVfG liegt die Kompetenz beim Bund; für LVwVfGe liegt sie bei den Ländern. Ein Landesgesetzgeber ist dabei weder an die gesetzliche Ausgestaltung im Bund noch in den anderen Ländern gebunden.[14] Betrachtungsmaßstab ist damit lediglich die konkrete Landesrechtsordnung. Bundesrecht und bundeseinheitliches Landesrecht ist zur Feststellung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes nicht geeignet. Selbst wenn man in § 79 Abs. 2 BVerfGG, § 183 VwGO, § 157 FGO einen allgemeinen Rechtsgedanken sehen wollte,[15] kann er allenfalls auf Bundesebene fruchtbar gemacht werden.Rn. 7
Jedenfalls fehlt es – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene – an der für die Bildung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes erforderliche Regelungslücke. Eine Lücke liegt vor, wenn es an einer anwendbaren Rechtsnorm fehlt[16] und „das geltende Recht die Ergänzung des Gesetzes fordert.“[17] Nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG[18] kann ein bereits zum Erlasszeitpunkt[19] rechtswidriger Verwaltungsakt auch nach der Unanfechtbarkeit zurückgenommen werden. Der Behörde kommt nach ganz h.M. hinsichtlich der Rücknahme ein Ermessen zu. Nur ausnahmsweise[20] kann es auf null reduziert sein. Das ist etwa der Fall, wenn sich die Rechtswidrigkeit der Behörde aufdrängen musste[21], der rechtswidrige Verwaltungsakt schlechthin unerträglich wäre[22] oder gegen die guten Sitten verstoßen würde[23]. Wurde ein Verwaltungsakt ohne Rechtsgrundlage erlassen, führt dies in der Regel nicht zur Nichtigkeit nach § 44 Abs. 1 VwVfG.[24] Ein rechtsgrundloser Verwaltungsakt ist grundsätzlich nur rechtswidrig.Rn. 8
Eine verfassungswidrige Norm wird nicht erst durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung beseitigt; sie war rechtlich nie existent. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist rein deklaratorisch.[25] Beruht ein Verwaltungsakt auf einem verfassungswidrigen Gesetz, so ist dieser rechtsgrundlos erlassen worden. Die verwaltungsverfahrensrechtliche[26] Rechtsfolge eines rechtsgrundlosen Verwaltungsaktes ist in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG geregelt. Danach sind rechtswidrige Verwaltungsakte grundsätzlich rechtsbeständig.[27] Eine Regelungslücke ist folglich nicht auszumachen.Rn. 9

IV. Fazit

Ein rechtsgrundloser Verwaltungsakt bleibt nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG bestandskräftig, soweit und solange die Behörde ihn nicht zurücknimmt. Wird ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, wird deklaratorisch mit ex-tunc-Wirkung die Nichtigkeit festgestellt. Ein auf Grundlage eines nichtigen Gesetzes erlassenen Verwaltungsaktes stellt ebenfalls einen rechtsgrundlosen Verwaltungsakt dar. Er ist nicht anders zu behandeln als andere rechtsgrundlose Verwaltungsakte. Auch er unterfällt § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Damit fehlt es an einer Regelungslücke, welche sowohl für eine Analogie als auch für die Bildung eines allgemeinen Rechtsatzes erforderlich ist.Rn. 10
§ 183 S. 1 VwGO ist daher weder analog noch als allgemeiner Rechtsgrundsatz auf bestandskräftige Verwaltungsakte anwendbar. Die Bestandskraft des Verwaltungsaktes ergibt sich allein aus § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG.Rn. 11
Fußnoten
[1]BVerwGE 27, 141 (144); OVGE Münster 21, 40 (41).
[2]BVerwGE 56, 172 (178); BVerwG, DVBl 1993, 651 = NVwZ 1993, 1183; OVGE Berlin 15, 150 (155) = BauR 1980, 536 (538); OVG Saarland, UPR 1983, 30.
[3]BGH, DVBl 1983, 628; VGH Mannheim, UPR 1983, 343 (344); W.-R. Schenke/Hug, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 183 Rn. 5; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 183 Rn. 9; Pietzner, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO, § 183 Rn. 53 (Stand: Grundwerk); Gerhard, Die Rechtsfolgen prinzipaler Normenkontrollen für Verwaltungsakte, 2008, S. 69; Kraft, UPR 1988, 288 (295).
[4]BSGE 116, 80 (84 f., Rn. 21); Mann, in: Mann/Tettinger, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 5. Aufl. 2015, Rn. 273 f.; zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Analogie: BVerfGE 82, 6 (11 ff.).
[5]Pietzner (Fn. 3), § 183 Rn. 52; Gerhard (Fn. 3), S. 71.
[6]Pietzner (Fn. 3), § 183 Rn. 52.
[7]Jüngst: BVerfGE 140, 65.
[8]Ebenso Gerhard (Fn. 3), S. 72.
[9]Vgl. nur Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2017, Rn. 564; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 9 Rn. 39.
[10]BT-Drs. 3/55, S. 49 (zu § 172 des Entwurfs).
[11]Vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 79 Rn. 29.
[12]Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, § 84; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2016, Rn. 598 (Bildung eines allg. Rechtsgedanken) und Rn. 605 (dessen Anwendung).
[13]Reimer (Fn. 12), Rn. 599.
[14]Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.6.2017 – OVG 4 S 17.17, Rn. 21 (juris).
[15]Hierzu kritisch: Steiner, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I. Festgabe zum 25jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 628 (637).
[16]Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, 2. Aufl. 1960, S. 83.
[17]Canaris (Fn. 12), § 87.
[18]Dies gilt sowohl für Bundes- als auch das Landesverwaltungsverfahrensgesetz. Eine Differenzierung wird nicht vorgenommen.
[19]BVerwGE 59, 148 (160); Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 17. Aufl. 2016, § 48 Rn. 57.
[20]Nach Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, 10. Aufl. 1973, § 13.2.b) (S. 261) besteht für rechtswidrige belastende Verwaltungsakte eine Rücknahmepflicht. Zur Frage, ob für anfechtbare Verwaltungsakte eine Rücknahmepflicht besteht: Baumeister, in: Festschrift W.-R. Schenke, 2011, S. 601 ff.
[21]BVerwGE 95, 86 (92); BVerwG, NVwZ 2007, 709 (710 f.; Rn. 15).
[22]BVerwGE 28, 122 (127); 44, 333 (336); 95, 86 (92).
[23]BVerwGE 44, 333 (336); 95, 86 (92).
[24]BVerwGE 1, 67 (69f.); 19, 284 (287f.); 27, 141 (143); BVerwG, NVwZ 1998, 1061 (1062); Gmeiner/Lorenz, erscheint demnächst in der Verwaltungsrundschau; offengelassen: VG Dresden, SächsVBl. 1996, 286 (287).
[25]Vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 115, 51 (62); Bethge, Jura 2009, 18 (20).
[26]Auf die verwaltungsprozessuale Aufhebungsmöglichkeit des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO kommt es hier hingegen nicht an.
[27]BVerwGE 121, 226 (230).