Florian Albrecht*: Rezension – Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012
ZVR-Online Dok. Nr. 57/2012 – online seit 06.11.2012
Gerlach, Julia
Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie. Verbieten oder Nicht-Verbieten?
NOMOS Verlagsgesellschaft
Baden-Baden, 2012
570 Seiten
89,00 €
ISBN 978-3832974565
Bei der als Band 22 der Reihe „Extremismus und Demokratie“ erschienenen Dissertation handelt es sich um die Veröffentlichungsfassung der ersten politikwissenschaftlichen Arbeit, die sich mit der Praxis der Vereinsverbote auseinandersetzt. Die Ausführungen sind dabei Bestandteil einer Analyse der Faktoren, die die Vereinsverbotspraxis nach 1990 prägen. Untersuchungsgegenstand sind die Verbote von rechtsextremistischen, linksextremistischen und islamistischen Organisationen. | Rn. 1 |
Gleich zu Beginn ihrer Ausführungen macht die Verfasserin deutlich, dass Vereinsverbote stets Folge politisch motivierter Entscheidungen sind,[1] die angesichts ihrer freiheitsbeschränkenden Wirkung sorgfältig überlegt sein wollen.[2] Anhand der Vereinsverbotspraxis kann nicht nur das Zusammenspiel von Freiheits- und Sicherheitsinteressen verdeutlicht, sondern auch der Entwicklungsstand unserer politischen Identität und unseres demokratischen Systems verdeutlicht werden: „Wie eine Demokratie mit ihren Gegenspielern umgeht, lässt Rückschlüsse auf sie selbst, auf die tatsächliche Qualität ihrer Ideale, zu“.[3] | Rn. 2 |
Gerlach beginnt ihre Ausführungen u.a. mit einer Darstellung des wissenschaftlichen Forschungsstandes (S. 24 bis S. 44), der aus juristischer Sicht besonders interessant ist, weil auf zahlreiche Monographien und Zeitschriftenbeiträge verwiesen wird, die sich der Materie aus öffentlich-rechtlicher Perspektive widmen. Der Rezensent, der sich mittlerweile seit einigen Jahren intensiv mit der Materie der Vereinsverbote auseinandersetzt, konnte hier noch manchen bislang unbekannten Hinweis auf interessante Belegstellen finden. | Rn. 3 |
Für den rechtswissenschaftlichen Diskurs ist zudem die Stellungnahme der Verfasserin zur Bedeutung und Ausgestaltung der in Art. 9 Abs. 1 GG niedergelegten Vereinigungsfreiheit relevant (S. 75 bis S. 90). Hier findet sich eine Erläuterung des Schutzbereichs des Grundrechts, der Verbotstatbestände und der insoweit relevanten Schutzgüter sowie dem Verbot von Ausländervereinen. | Rn. 4 |
Die anschließende Erläuterung des Verbotsverfahrens (S. 90 bis S. 93) mag der Praxis entsprechen. Aus juristischer Sicht ist der Feststellung, wonach das auf ein Vereinsverbot abzielende Ermittlungsverfahren „von der Polizei durchgeführt“ wird,[4] mindestens unsauber formuliert, vielleicht sogar falsch. Tatsächlich wird das Ermittlungsverfahren nämlich von der Verbotsbehörde eingeleitet und auch durchgeführt. Die Verbotsbehörde kann sich in diesem Rahmen gem. § 4 Abs. 1 VereinsG der Polizeibehörden bedienen, die diesbezüglich als Hilfsbehörden fungieren.[5] | Rn. 5 |
Gerlach stellt des Weiteren fest, dass Vereinsverbote nicht nur dem Schutz von Rechtspositionen und der Demokratie dienen, sondern auch Bestandteile der politischen Kommunikation sind.[6] Dadurch wird das Verbotsverfahren anfällig für Missbrauch: „Es [ist] möglich, dass politische Akteure die Anwendung des Vereinsverbots ausschließlich zur Selbstinszenierung beziehungsweise zum Selbst-Marketing vollziehen, ohne dass dies aus Demokratieschutzgründen notwendig wäre. In beiden Fällen nimmt die streitbare Demokratie Schaden. Freiheit wird dann nicht um der Freiheit willen beschnitten.“[7] | Rn. 6 |
Aufschlussreich sind zudem die Überlegungen der Verfasserin hinsichtlich der Frage, ob Vereinsverbote der Anwendung des Opportunitäts- oder Legalitätsprinzip unterliegen (S. 98 bis S. 107). Gerlach entscheidet sich mit politikwissenschaftlichen Argumenten, die allesamt gut nachvollziehbar dargestellt werden, für das Opportunitätsprinzip. Prägnant wird erläutert: „Für den Schutz der Demokratie kann sich eine ‚Abwehrbereitschaft vom Fließband‘ als wirkungslos oder gar kontraproduktiv erweisen. Deswegen ist im Einzelfall unter Anwendung bestimmter Kriterien zu entscheiden, ob das Verbot eines offensichtlich verbotswidrigen Vereins dem Schutz der Demokratie dienlich ist. Die Prüfung hierzu muss über eine materiellrechtliche hinausgehen. Eine politische Norm erfordert in ihrer Ausführung politisches Ermessen.“[8] | Rn. 7 |
Mahnend betont die Verfasserin das hinsichtlich der Verbotspraxis zu beachtende Gebot der Äquidistanz: „Es besagt […], dass das Streitbarkeitsprinzip grundsätzlich losgelöst vom politischen Standort von Extremisten besteht. Für die streitbare Demokratie ist lediglich relevant, dass die herausgefordert wird und nicht, von welchen politischen Standort aus.“[9] Dass diesbezügliche Besorgnisse berechtigt sind, belegt der empirische Befund: Die inkonsistente Auseinandersetzung mit dem Linksextremismus und dessen Unterstützung durch politische Parteien hat sich bereits negativ zu Lasten der streitbaren Demokratie ausgewirkt.[10] | Rn. 8 |
Der Komplex „Instrumente der streitbaren Demokratie“ (S. 75 bis S. 129) wird nach den grundlegenden Ausführungen zum Vereinsverbot durch Kapitel zum Parteiverbot (S. 107 bis S. 115), der Verwirkung von Grundrechten (S. 115 bis S. 120) und der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst (S. 120 bis S. 126) vervollständigt. | Rn. 9 |
Der empirische Teil der Arbeit ist so ausführlich und detailliert, dass seine Inhalte und Schlussfolgerungen hier nur angesprochen werden können. Besonders interessant ist jedenfalls, was der Studie im Kontext eines möglichen NPD-Verbotsverfahren entnommen werden kann: Die Verfasserin zeigt auf, dass die Konzentration nationalsozialistisch orientierter Kreise in der Partei eine natürliche Folge der betriebenen Verbotspolitik ist. Die NPD fungiert demnach als Auffangbecken für Personen, die sich ursprünglich in bereits verbotenen Vereinen zusammengeschlossen hatten. Abgesehen von einem Parteiverbotsverfahren sind diesbezügliche Einwirkungsmöglichkeiten kaum gegeben.[11] | Rn. 10 |
Die Wahrscheinlichkeit eines Vereinsverbots hängt nach Auffassung von Gerlach maßgeblich von der Intensität der in den Medien kolportierten Verbotsforderungen ab.[12] Vereinsverbote sind demnach immer auch Zugeständnisse der Politik. Dies hat mitunter zur Folge, dass die tatsächliche Effektivität der Verbote (deren Eignung im Kampf gegen den Extremismus), von untergeordneter Relevanz ist.[13] | Rn. 11 |
Gerlachs Werk sollte jeder Rechtsanwalt, Mitarbeiter in einem (Innen-)Ministerium oder Wissenschaftler, der sich mit der Praxis der Vereinsverbote befasst, griffbereit halten. Vereinsverbote lassen sich ohne das Wissen um ihre Hintergründe, Folgen und die relevanten Wirkungsmechanismen weder sinnvoll vollziehen noch wirksam bekämpfen. Die notwendigen Informationen liefert „Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie“. Zugleich trägt die Dissertation zur Versachlichung einer Debatte bei, die bislang nur oberflächlich und mit Blick auf politische Bedarfslagen geführt wurde. Eine klare Kaufempfehlung ist trotz des hohen Anschaffungspreises abzugeben. | Rn. 12 |
Fußnoten
* Florian Albrecht, M.A. ist Akademischer Rat a. Z. und Geschäftsführer der Forschungsstelle für IT-Recht und Netzpolitik (For..Net) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht (Prof. Dr. Dirk Heckmann), Universität Passau.
[1] | Dies lässt sich mit der teilweise im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vertretenen Ansicht, wonach hinsichtlich der Aussprache von Vereinsverboten stets das Legalitätsprinzip zur Anwendung kommen muss (der Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 GG lässt sich nämlich nicht in „können verboten werden“ umdeuten), kaum vereinbaren; zum Streitstand Planker, Das Vereinsverbot gem. Art. 9 Abs. 2 GG/ §§ 3 ff- VereinsG – Eine systematische Darstellung von Tatbestand und Rechtsfolge, 1994, S. 110 ff. |
[2] | Zutreffend ist der diesbezügliche Hinweis: „Der verfassungsrechtliche Demokratieschutz schränkt eigentlich garantierte Grundrechte ein, um Freiheit zu schützen. Diese Dilemma der streitbaren Demokratie bleibt ein unauflösbarer Widerspruch.“ So Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 74. |
[3] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 19. |
[4] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 92. |
[5] | Vertiefend Albrecht, jurPC Web-Dok. 47/2012, Abs. 6 ff. |
[6] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 93. |
[7] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 97. |
[8] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 101. |
[9] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 103. |
[10] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 476 f.; vgl. Albrecht, in: Albrecht/Knabe, jurPC Web-Dok. 43/2012, Abs. 45. |
[11] | Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 360. |
[12] | „Die Medienberichterstattung wird von den meisten Politikern als identisch mit der Meinung der Außenwelt wahrgenommen.“ So Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 473. |
[13] | Oder gar überhaupt nicht festzustellen ist. Vereinsverbote sind dann nur noch Placebos; Gerlach, Die Vereinsverbotspraxis der streitbaren Demokratie, 2012, S. 474. |