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OVG Schleswig, Beschl. v. 17.08.2012 - 4 MR 2/12 – „Verbot des Hells Angels MC Charter Kiel“

ZVR-Online Dok. Nr. 59/2012 – online seit 06.11.2012

Art. 9 Abs. 2 GG, § 3 Abs. 1 VereinsG, § 12 Abs. 2 VereinsG

Leitsatz der Redaktion

Das vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren unterliegt keiner isolierten Rechtmäßigkeitskontrolle.Rn. 1

Gründe

Der gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag des Antragstellers,

die aufschiebende Wirkung der Klage bis zur Vorlage der vollständigen Verwaltungsvorgänge durch den Antragsgegner wiederherzustellen,

hat keinen Erfolg.
Rn. 2
Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ergeht auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung zwischen dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers, das heißt hier dem allein anfechtungsbefugten verbotenen Verein und dem öffentlichen Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsakts. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, ist die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen, da an der sofortigen Vollziehung rechtswidriger Verwaltungsakte kein überwiegendes öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist er sich hingegen als offensichtlich rechtmäßig, so ist weiter zu prüfen, ob im Einzelfall ein über das Interesse am Erlass des Bescheides selbst hinausgehendes überwiegendes Vollziehungsinteresse erkennbar ist. Insbesondere in Fällen der Gefahrenabwehr kann dieses besondere Vollzugsinteresse mit dem Interesse am Erlass des Bescheides selbst identisch sein. Lässt sich die Rechtmäßigkeit bei summarischer Prüfung nicht eindeutig beurteilen, bedarf es schließlich einer allgemeinen Interessenabwägung im Sinne einer Folgenabwägung. Dabei sind die Folgen gegenüberzustellen, die einerseits eintreten, wenn dem Antrag stattgegeben wird, der Bescheid sich aber später im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweist beziehungsweise die andererseits eintreten, wenn der Antrag abgelehnt wird, der Bescheid sich aber später im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweist (Senatsbeschl. v. 6.8.1991 - 4 M 109/91 -, juris).Rn. 3
Vorliegend lässt sich bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Verbotsverfügung nicht ohne Weiteres feststellen; die hiernach gebotene Folgenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus.Rn. 4
Die Beschwerde meint allerdings, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im beantragten Umfange sei allein deshalb geboten, weil der Antragsgegner den vollständigen Verwaltungsvorgang zurückhalte. Deshalb könne der Zurechnungsvorgang, d.h. die Gründe, aus denen die Straftaten einzelner Vereinsmitglieder als den A. prägend angesehen wurden, nicht überprüft werden. Dem Antragsteller müsse jedoch ermöglicht werden, die Rechtmäßigkeit nicht nur des Verbotes selbst, sondern auch des vorgeschalteten Ermittlungsvorgangs zu überprüfen.Rn. 5
Dem folgt der Senat nicht. Auch wenn man mit der Beschwerde unterstellt, dass der Bearbeitungsvorgang umfangreicher gewesen sein muss, als dies aus der übersandten Beiakte A hervorgeht, so hängt die Rechtmäßigkeit der Verbotsverfügung hiervon nicht ab.Rn. 6
Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider laufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. Ein Verein darf erst dann als verboten (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes) behandelt werden, wenn durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, dass seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider laufen oder dass er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet; in der Verfügung ist die Auflösung des Vereins anzuordnen (Verbot). Der Antragsgegner ist zu der Erkenntnis gekommen, dass die Zwecke und die Tätigkeit des Antragstellers im Sinne des in § 3 Abs. 1 Satz, 1. Alternative VereinsG aufgenommenen Verbotsgrundes aus Art. 9 Abs. 2, 1. Alternative GG den Strafgesetzen zuwider laufen, da Mitglieder und Funktionsträger des verbotenen Vereins in einer diesem zuzurechnenden und ihn prägenden Weise gegen Straftatbestände verstoßen haben. Bei diesem „Zurechnungsvorgang“ handelt es sich jedoch nicht um eine Ermessensentscheidung. Deshalb führt die Zurechnung von Straftaten einzelner Mitglieder zum Verein auf einer unzureichenden oder falschen Tatsachengrundlage oder auf Grund einer Fehlgewichtung einzelner für die Zurechnungsentscheidung relevanter Aspekte für sich genommen nicht zur Rechtswidrigkeit der Verbotsverfügung. Ebenso wenig handelt es sich um eine einen Abwägungsvorgang voraussetzende Entscheidung, die den Anforderungen des etwa im Planfeststellungsrecht geltenden Abwägungsgebotes genügen müsste. Dort verlangt das Abwägungsgebot zum einen, dass eine Abwägung überhaupt stattfindet, zum anderen, dass in die Abwägung Belange eingestellt werden, die nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden müssen, und schließlich, dass weder die Bedeutung der betroffenen Belange verkannt noch der Ausgleich zwischen ihnen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht (vgl. dazu etwa BVerwG, Urt. v. 14.02.1975 - 4 C 21.74 -, BVerwGE 48, 56, 63, 64). Diese - der Beschwerde möglicherweise vorschwebenden - Anforderungen in verfahrensrechtlicher Hinsicht gelten vorliegend jedoch nicht. Die Kriterien für eine Zurechnung einzelner Straftaten, welche durch Mitglieder des Vereins begangen wurden, sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung und in der Rechtsprechung des Senats geklärt (zusammenfassend Senat, Urt. v. 19.06.2012 - 4 KS 2/10 - m.w.N.). Ob unter Berücksichtigung dieser Kriterien einzelne Straftaten der Vereinsmitglieder den Verein prägen und deshalb seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider laufen, ist eine vom Gericht zu überprüfende Frage der Erfüllung des Tatbestandes des § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG.Rn. 7
Soweit die Beschwerde meint, ohne Vorlage sämtlicher dem Vereinsverbot zu Grunde liegender Vorgänge den Zurechnungsvorgang nicht überprüfen zu können, und daraus einen Anspruch auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bis zur vollständigen Vorlage des Verwaltungsvorganges ableitet, liegt dem ein unzutreffendes Normverständnis des § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG als einer einen verfahrensfehlerfreien Zurechnungsvorgang voraussetzenden Regelung zu Grunde. Entsprechend greift auch die Rüge nicht durch, der Antragsgegner habe über das Vereinsverbot nicht auf Grund einer eigenständigen Prüfung entschieden, sondern ohne selbständige Ermittlung und Prüfung eine „Musterverfügung“ der Polizei umgesetzt. Dieses Vorbringen vermag nicht durchzugreifen, weil das Vereinsverbot vom Antragsgegner - mithin von der zuständigen Verbotsbehörde - erlassen worden ist und nach den obigen Ausführungen das Ermittlungsverfahren keiner isolierten Rechtmäßigkeitskontrolle unterliegt. Weder das Vorliegen eines nicht vom Antragsgegner stammenden Strategiekonzeptes noch die Erarbeitung eines Entwurfes der Verbotsverfügung durch nachgeordnete Behörden vermag für sich allein genommen eine Rechtswidrigkeit des Vereinsverbotes zu begründen.Rn. 8
Dem Antragsteller gehen auch nicht in unzumutbarer Weise Rechtsschutzmöglichkeiten dadurch verloren, dass er sich infolge des „abgemagerten“ Verwaltungsvorganges nicht (ausreichend) in der Lage sieht, auf Unzulänglichkeiten im Entscheidungsprozess der Verbotsbehörde hinzuweisen.Rn. 9
Allerdings sieht sich der Senat zu der Bemerkung veranlasst, dass der übersandte Verwaltungsvorgang praktisch keinerlei Dokumentation des Entscheidungsprozesses der Verbotsbehörde und der vorbereitenden Zusammenarbeit mit nachgeordneten Behörden wie dem Landeskriminalamt oder anderen Polizeidienststellen enthält. Im Zuge des Verwaltungsverfahrens dürften entweder durch den Antragsgegner selbst oder durch nachgeordnete Behörden Strafermittlungsakten von Vereinsmitgliedern eingesehen und Auszüge gefertigt worden sein. Dies wird vom Antragsgegner auch nicht in Abrede gestellt, jedoch vorgetragen, sämtliche eingesehenen Strafermittlungsakten seien - nach Übernahme der gewonnenen Erkenntnisse in den Entwurf der Verbotsverfügung durch das zuständige Fachreferat - den Staatsanwaltschaften zurückgegeben worden. Es liegt auf der Hand, dass eine Zurverfügungstellung von Auszügen aus den Strafermittlungsakten nicht zuletzt auch der Verfahrensbeschleunigung dienen und im Einzelfall eine Anforderung bereits abgeschlossener Strafverfahrensakten im gerichtlichen Verfahren entbehrlich machen könnte. Auch ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung obliegt den Behörden die Pflicht zur Führung vollständiger und ordnungsgemäßer Akten (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 22.12.2000, juris unter Hinweis auf BVerwG, Beschl. v. 06.06.1982 - 2 BvR 310/83 -, NJW 1983, 2135). Bei einer Verletzung der Aktenführungspflicht kommt im Einzelfall eine Beweislastumkehr in Betracht (OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.02.2008, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 22.12.2000, juris). Die Verpflichtung zur vollständigen Aktenführung und die in § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO geregelte Verpflichtung der Behörde zur Vorlage von Urkunden oder Akten und zu Auskünften soll sicherstellen, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt so umfassend wie möglich aufgeklärt wird und dass alle Verfahrensbeteiligten von entscheidungserheblichen Vorgängen Kenntnis erlangen, um diese zur Grundlage ihres Vorbringens im Rechtsstreit machen zu können (BVerwG, Beschl. v. 04.01.2005 - 6 B 59/04 -, juris m.w.N.). Ob ein derartiger Verstoß gegen die Aktenführungspflicht und/oder die Vorlagepflicht aus § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorliegt, muss hier jedoch nicht entschieden werden. Eine nicht hinnehmbare Rechtsschutzverkürzung auf Grund der - zu Gunsten des Antragstellers unterstellten - unvollständigen Aktenübermittlung, welche wiederum im Rahmen der Interessenabwägung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im beantragten Umfange rechtfertigen könnte, vermag der Senat unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen nicht zu erkennen. Auch erschließt sich dem Senat nicht, wieso eine Stellungnahme zu den in der Verbotsverfügung aufgelisteten Straftaten nicht möglich sein sollte. Die Informationen hierüber sind bei den Mitgliedern des Antragstellers vorhanden. Was die Zurechenbarkeit der Straftaten angeht, so bleibt es dem Antragsteller ebenfalls möglich, das Vorliegen der von der Rechtsprechung bereits herausgearbeiteten Zurechnungskriterien in Abrede zu stellen und sich mit der diesbezüglichen Argumentation in der Verbotsverfügung auseinanderzusetzen.Rn. 10
Unter Berücksichtigung der in der Verbotsverfügung aufgelisteten Strafverfahren einzelner Mitglieder und der unter II Ziffer 1 der Verbotsverfügung dargelegten Zurechnung sieht der Senat das Vorliegen der Voraussetzungen eines Vereinsverbotes insgesamt als offen an, zumal eine der beiden Verbotsgründe des § 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG hierfür ausreichen würde. Die in der Verbotsverfügung über das Vereinsverbot (Anordnung der Auflösung des Vereins gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VereinsG) hinaus vorgesehenen Rechtsfolgen unterliegen keinen gesonderten rechtlichen Bedenken. Die Untersagung jeglicher Tätigkeit und der Bildung von Ersatzorganisationen sowie der Verbreitung oder öffentlichen Verwendung beziehungsweise Verwendung von Kennzeichen in einer Versammlung fänden ihre Rechtsgrundlage in §§ 8 und 9 VereinsG. Die Beschlagnahme und Einziehung des Vermögens des Antragstellers gemäß Ziffer 4 des Bescheides ließen sich als regelmäßig vorzusehende Rechtsfolge auf § 3 Abs. 1 Satz 2 VereinsG, die in Ziffer 5 verfügte Beschlagnahme und Einziehung von Sachen Dritter auf §§ 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 12 Abs. 2 VereinsG zurückführen. Dass im Falle des Antragstellers ein vom Regelfall abzugrenzender atypischer Ausnahmefall vorläge, in dem der Verlust des Vermögens für den Betroffenen auf Grund besonderer Umstände unverhältnismäßig wäre, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.Rn. 11
Die vorliegend vorzunehmende erweiterte Interessenabwägung geht zu Lasten des Antragstellers aus. Dabei war zu berücksichtigen, dass - wie oben bereits ausgeführt - keine unzumutbare Rechtsschutzverkürzung droht, welche die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung im beantragten Umfange geböte. Zwar könnte ein „gehaltvollerer“ Verwaltungsvorgang möglicherweise die Dauer des Hauptsacheverfahrens beeinflussen; dieser vom Senat berücksichtigte Umstand ändert jedoch am Ergebnis der Folgenabwägung nichts.Rn. 12
Die Beschwerde selbst hat darauf hingewiesen, der Antragsteller habe sich nach Zustellung der Verbotsverfügung vom 18. Januar 2012 zunächst entschlossen, von einem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alternative 2 VwGO mit dem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zur Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens Abstand zu nehmen. Beweggrund sei die Erkenntnis gewesen, dass die erforderliche Interessenabwägung in Anbetracht der Zuschreibungen der Begehungs- und Verhaltensweisen von Mitgliedern der Vereinigung „HAMC A-Stadt“ dem Gericht keinen rechtlichen Abwägungsspielraum dahingehend einräumt, das Interesse der Vereinsmitglieder, mit ihrem Vereinskennzeichen Motorradausfahrten zu veranstalten, über das Interesse der Verbotsbehörde an einer effektiven Gefahrenabwehr zu stellen. Der nunmehr vorliegende Antrag resultiere (allein) aus dem Umstand, dass sich der Antragsgegner geweigert habe, die vollständigen Verwaltungsvorgänge vorzulegen. Angesichts der - zutreffenden - Einschätzung der Beschwerde zur Interessenabwägung nimmt der Senat von einer weiteren Begründung der Folgenabwägung Abstand.Rn. 13
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes beruht auf den §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG.Rn. 14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).Rn. 15