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Alexander Seidl*: Rezension – Kral, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012

ZVR-Online Dok. Nr. 61/2012 – online seit 27.11.2012

Kral, Sebastian
Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts
Duncker & Humblot GmbH
Berlin 2012
242 Seiten
78 €
ISBN 978-3-428-13790-9

Freiheit und Sicherheit stehen seit jeher in einem Spannungsverhältnis. Sie sind aber keine unversöhnlichen Widersprüche, im Grunde nicht einmal überhaupt Widerspruch. Sie stehen vielmehr in einem Komplementärverhältnis: Sie setzen sich wechselseitig voraus und stärken einander, wenn beide angemessen zur Entfaltung gelangen.[1] Damit wird ein Spannungsfeld beschrieben, das geradezu das gesamte Polizeirecht prägt: Das Verhältnis von Freiheit zu Sicherheit. Hier einen gerechten Ausgleich zu finden, ist Aufgabe der Politik, die nach programmatischer Ausrichtung der Regierungsparteien, aber auch dem Zeitgeist entsprechend mal die Sicherheit, mal die Freiheit in den Vordergrund stellt. Unter dem Eindruck der Terroranschläge von New York, Madrid und London sowie der auch in Deutschland akuten Terrorbedrohung läuft der Staat jedoch Gefahr, diese angemessene Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu verlieren und die Freiheit der Sicherheit zu opfern.[2]Rn. 1
Das „klassische“ Polizeirecht sieht sich in den letzten Jahrzehnten mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die die hergebrachte Polizeirechtsdogmatik an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit führen. Nicht zuletzt um der Terrorgefahr zu begegnen, verändern sich die präventiv-polizeilichen Aufgabenstellungen zunehmend zu einer umfassenden Risikovorsorge mit einer Ausweitung der Befugnisse in das Gefahrenvorfeld. Das traditionelle polizeiliche Aufgabenfeld der Gefahrenabwehr wird erweitert auf umfangreiche präventive Zielsetzungen und die Polizei mit dem Ziel der Vorbeugung von Gefahrentstehungen mit Befugnissen ausgestattet, die ein Eingriffshandeln jenseits der traditionellen Zugriffsschwellen der Gefahr ermöglichen.Rn. 2
Mit der Veränderung polizeilicher Aufgabenstellungen und dem daraus resultierenden Befugniswandel verlieren wesentliche Elemente einer rechtsstaatlich gesicherten Dogmatik an Bedeutung. Ziel der Arbeit Krals ist es, einen Beitrag dazu zu leisten, die sich dem modernen Polizeirecht stellenden Herausforderungen zu bewältigen und dadurch den kontinuierlichen Wandel, dem das Polizeirecht seit jeher unterlag, im 21. Jahrhundert fortzuführen.[3] Die Bearbeitung will dem „Gesetzgeber, sofern er, wie gegenwärtig übereinstimmend auszumachen ist, eine Ausdehnung des polizeilichen Handlungsfeldes als notwendig erachtet, eine abschließend definierte Dogmatik zur Verfügung stellen, welche seine Zielsetzungen unter Berücksichtigung der Sicherheits- wie Freiheitsinteressen in ein verfassungskonformes polizeirechtliches Gesamtkonzept setzt.“[4]Rn. 3
Die Monographie Krals ist in 5 Teile gegliedert. Im ersten Teil seiner Publikation zeigt der Autor den Wandel der polizeilichen Herausforderungen im Spiegel zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Er schildert hierzu insbesondere die neuen Bedrohungsziele und die neuen polizeirechtlichen Rahmenbedingungen. Im Anschluss daran stellt er Gang und Ziel seiner Untersuchung vor, wobei er abschließend drei Fallbeispiele bildet, die an den entsprechenden Stellen aufgegriffen werden sollen, um nicht an praktischer Anschaulichkeit zu verlieren.Rn. 4
Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich umfassend mit der traditionellen Polizeirechtsdogmatik. Kral geht hierzu detailliert auf die konkrete Gefahr als Eingriffsschwelle ein und untersucht deren drei Grundelemente – den in der jeweiligen Situation befürchteten Schaden an einem der Schutzgüter, die den Eingriffsanlass bildende Sachlage sowie das diese Elemente verknüpfende Wahrscheinlichkeitsurteil. Neben der Eingriffsschwelle setzt sich Kral in diesem Kapitel auch mit den Maßnahmeadressaten auseinander und differenziert hinsichtlich der Rechtsfolgen nach Gefahrbeseitigungsbefugnisse und Gefahraufklärungsbefugnisse. Abschließend wendet er die klassische Polizeirechtsdogmatik zur Veranschaulichung auf die im ersten Teil aufgeführten Beispielsfälle an.Rn. 5
Im dritten Teil der Monographie werden die Vorfeldbefugnisse einer kritischen Analyse unterzogen. Dazu erfolgt in einem ersten Abschnitt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Vorfeldbefugnisse als solchem, bevor anschließend deren Einordnung in das polizeiliche Aufgabengefüge und deren Systematisierung nach der bereits im vorherigen Textabschnitt vorgenommenen Untergliederung in Eingriffsschwellen, Maßnahmeadressaten und Rechtsfolgen vorgenommen wird. Kral stellt drei Grundtypen von Eingriffsermächtigungen jenseits der hergebrachten Dogmatik fest und zeigt auf, dass diese mit zum Teil erheblichen verfassungsrechtlichen und strukturellen Defiziten behaftet sind. Der besondere Status des Vorfeldrechts finde in der polizeigesetzlichen Systematik, die auf der gesetzgeberischen Aufgabenzuweisung aufbaut, keine Berücksichtigung. Vielmehr ignoriere der Gesetzgeber schlicht die dogmatischen und strukturellen Unterschiede der verschiedenen Regelungsbereiche und füge sie in ein sie nicht erfassendes System ein.[5]Rn. 6
Im vierten Teil stellt Kral den aufgezeigten, zahlreichen ungeklärten Fragen und Problemen ein vorfeldbezogenes Rechtsgüterschutzmodell entgegen. Vorweg fasst er noch einmal die bereits herausgearbeiteten Kritikpunkte und Ziele der derzeitigen Vorfeldbefugnisse zusammen und steckt den verfassungsrechtlichen Rahmen dieser Befugnisschicht ab. Kral entwickelt – um den grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Freiheitsinteressen gerecht zu werden – ein sechsstufiges System von Eingriffsermächtigungen in Abhängigkeit von der Eingriffsintensität der Maßnahmen und ihnen vorausgehenden Bedrohungspotenzialen. In diesem Rechtsgüterschutzmodell werden sowohl die „klassischen“ Gefahrenabwehrbefugnisse als auch das Vorfeldrecht vereint.Rn. 7
Über die Stufenfolge der Eingriffsbefugnisse hinaus schlägt das Rechtsgüterschutzmodell Krals insbesondere zur besseren Verständlichkeit und Übersichtlichkeit Änderungen maßnahmeübergreifender Vorgaben im allgemeinen Teil der Polizeigesetze vor. Diese betreffen vor allem die Aufgabenzuweisung, die Regeln über die personale Verantwortlichkeit, den Kernbereichsschutz sowie die verfahrensrechtlichen Vorgaben.[6]Rn. 8
Kral greift ein Thema auf, das sich durch höchste Aktualität und praktische Relevanz auszeichnet. Er beleuchtet die traditionelle Polizeirechtsdogmatik, stellt sie der gegenwärtigen Dogmatik der Vorfeldbefugnisse gegenüber und kommt so zu dem Ergebnis, dass viele der modernen polizeilichen Vorfeldbefugnisse nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen. Die Monographie endet mit dem Vorschlag eines ausdifferenzierten, mehrstufigen Rechtsgüterschutzmodells, das sowohl das klassische Polizeirecht als auch das Vorfeldrecht in sich vereint.Rn. 9
Im Anschluss an Teil 4 werden die gewonnenen Ergebnisse in einem separaten Abschnitt, Teil 5, thesenartig zusammengefasst. Abgerundet wird die Arbeit durch ein Literaturverzeichnis und ein Sachwortregister.Rn. 10
Die Lektüre dieses Werks kann den jeweiligen Landesministerien, die für die polizei- und sicherheitsrechtliche Gesetzgebung zuständig sind, sowie der Polizeirechtswissenschaft nachdrücklich empfohlen werden.Rn. 11
Fußnoten

* Ass. iur. Alexander Seidl, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mediator (CVM), Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht (Prof. Dr. Heckmann), Universität Passau.

[1]Di Fabio, NJW 2008, 421, 422.
[2]Seidl, PVT 2010, 276.
[3]Vgl. Kral, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, S. 29.
[4]Kral, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, S. 31.
[5]Vgl. Kral, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, S. 168.
[6]Vgl. Kral, Die polizeilichen Vorfeldbefugnisse als Herausforderung für Dogmatik und Gesetzgebung des Polizeirechts, 2012, S. 227 f.