Prof. Dr. Frank Hofmann*: „Führerscheintourismus“ – des Dramas nächster Akt
ZVR-Online Dok. Nr. 17/2012 – online seit 27.06.2012
Schon seit Jahren beschäftigt das Thema „Führerscheintourismus“ die nationale Gerichtsbarkeit und den EuGH. Das BVerfG hat sich zuletzt im September 2011 mit der Thematik befasst. Der EuGH hat im März und April 2012 zwei weitere, richtungsweisende Entscheidungen zur Frage der Gültigkeit einer im Ausland erworbenen Fahrerlaubnis im Inland getroffen. Diese höchstrichterlichen Entscheidungen sollen in diesem Beitrag vorgestellt und in den Stand der Diskussion eingeordnet werden. | Rn. 1 |
A. Ausgangslage
Seit dem 19.01.2009 ist die Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über den Führerschein in Kraft, sog. 3. Führerschein-Richtlinie.[1] Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126 lautet: „Ein Mitgliedstaat lehnt es ab, einem Bewerber, dessen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen wurde, einen Führerschein auszustellen. Ein Mitgliedstaat lehnt die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ab, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen worden ist. Ein Mitgliedstaat kann es ferner ablehnen, einem Bewerber, dessen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat aufgehoben wurde, einen Führerschein auszustellen.“ | Rn. 2 |
In Ausfüllung dieser Richtlinie wurde § 28 FeV neu gefasst.[2] Gemäß § 28 Abs. 1 FeV sind Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren Wohnsitz in Deutschland haben, zwar grundsätzlich berechtigt, ihre Fahrerlaubnis zu nutzen. Dies gilt aber nicht, wenn sie ausweislich des Führerscheins oder vom Ausstellungsmitgliedstaat herrührender unbestreitbarer Informationen zum Zeitpunkt der Erteilung ihren ordentlichen Wohnsitz im Inland hatten, es sei denn, dass sie als Studierende oder Schüler im Sinne des § 7 Abs. 2 die Fahrerlaubnis während eines mindestens sechsmonatigen Aufenthalts erworben haben, § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV. | Rn. 3 |
Nach § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV gilt die Berechtigung auch nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben. Der Inhaber einer EU-/EWR-Fahrerlaubnis, dem vorher eine deutsche Fahrerlaubnis entzogen wurde, hat lediglich die Möglichkeit, gemäß § 28 Abs. 5 FeV einen Antrag zu stellen, von einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch machen zu dürfen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr bestehen. Da § 20 Abs. 1, 5 FeV gemäß § 28 Abs. 5 Satz 2 FeV entsprechend gilt, gelten für das Recht auf Gebrauchmachen einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis die für die Vorschriften der Ersterteilung einer deutschen Fahrerlaubnis geltenden Regeln. Außerdem kann nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV die Anordnung einer medizinischen-psychologischen Untersuchung erfolgen. | Rn. 4 |
Bei der Anwendung dieser Vorschriften sind folgende Eckpunkte weitgehend unumstritten: Die Dritte Führerscheinrichtlinie gilt nur für solche Fahrerlaubnisse, die von dem ausländischen Mitgliedsstaat nach dem 18.01.2009 ausgestellt wurden.[3] Für vorher ausgestellte Fahrerlaubnisse gilt das alte Recht. | Rn. 5 |
Wenn in der Fahrerlaubnis selbst ein Wohnsitz im Ausland eingetragen ist, gewährt sie in Deutschland keine Berechtigung zum Führen eines Kraftfahrzeuges. Diese, in § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV normierte Einschränkung, ist europarechtlich unproblematisch und entspricht im Übrigen auch der Rechtsprechung zur Rechtslage vor Inkrafttreten der Dritten Führerscheinrichtlinie.[4] Das Erfordernis des Wohnsitzes im Ausland ist erfüllt, wenn der Betroffene an mindestens 185 Kalendertagen im Kalenderjahr an seinem ausländischen Wohnsitz tatsächlich gewohnt hat.[5] | Rn. 6 |
Soweit die „unbestreitbaren Informationen“ betroffen sind, geht die überwiegende Rechtsprechung davon aus, dass diese auch noch im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Wege der Amtsermittlung eingeholt werden können.[6] Beispiele für „unbestreitbare Informationen“ sind etwa Auskünfte der ausländischen Einwohnermeldeämter oder Mitteilungen des gemeinsamen Zentrums der deutsch-tschechischen Polizei- und Zollzusammenarbeit.[7] Umstritten ist, ob auch die Einlassungen des Betroffenen selbst – etwa in einem Strafverfahren - als unbestreitbare Informationen des Austellermitgliedsstaates gewertet werden können.[8] | Rn. 7 |
B. Das Problem: Ist § 28 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 FeV europarechtskonform?
Schon seit Inkrafttreten der Dritten Führerscheinrichtlinie und der modifizierten FeV wird über die Vereinbarkeit des § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV mit dem Europarecht diskutiert.[9] Auch die Rechtsprechung war sich in einer wesentlichen Frage uneinig: Müssen in Deutschland solche Fahrerlaubnisse anerkannt werden, die ein Deutscher, dem die Fahrerlaubnis in Deutschland entzogen wurde, nach Ablauf der Sperrfrist in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, wenn er dabei dem Wohnsitzerfordernis entsprochen hat? | Rn. 8 |
Ein großer Teil der Rechtsprechung hat den Gedanken der Verkehrssicherheit in den Vordergrund gestellt und entschieden, solche Fahrerlaubnisse dürften/müssten in Deutschland nicht anerkannt werden.[10] Andere Gerichte betonten das europarechtliche Gebot von der grundsätzlichen Anerkennungspflicht der Fahrerlaubnisse anderer Mitgliedsstaaten und urteilten, dass die ausländischen Fahrerlaubnisse in Deutschland Gültigkeit hätten.[11] | Rn. 9 |
C. Die Entscheidung des BVerfG vom 22.09.2011
Das BVerfG hat am 22.09.2011 eindeutig Stellung bezogen und entschieden, § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV sei mit Europarecht unvereinbar.[12] Es liege sowohl ein Verstoß gegen die Dritte Führerscheinrichtlinie als auch gegen das in den Grundfreiheiten enthaltene Diskriminierungsverbot vor. Es sei den Mitgliedsstaaten verwehrt, außer dem Ablauf der Sperrfrist weitere Genehmigungs- oder Anerkennungsvoraussetzungen für die ausländische Fahrerlaubnis aufzustellen. | Rn. 10 |
D. Die Entscheidungen des EuGH vom 01.03.2012 und vom 26.04.2012
Europarechtlich hat der EuGH in seinen Entscheidungen vom 01.03.2012[13] und vom 26.04.2012[14] klare Aussagen getroffen: Ein Mitgliedsstaat ist verpflichtet, jede von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellte Fahrerlaubnis anzuerkennen, sofern sie nach Ablauf einer Sperrfrist ausgestellt wurde und sofern dem Wohnsitzerfordernis Rechnung getragen worden ist. Weitere „Hürden“ wie insbesondere eine erfolgreich absolvierte Medizinisch-Psychologische Untersuchung dürfen nicht aufgebaut werden. | Rn. 11 |
E. Konsequenzen
Aus den Entscheidungen des EuGH ergeben sich folgende Konsequenzen: Die gegenteilige Rechtsprechung der Instanzgerichte (Fn. 9) ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Missachtung der europarechtlichen Grundsätze durch ein Verwaltungs- oder Strafgericht kann eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG) bedeuten und zur Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde führen. | Rn. 12 |
§ 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV ist europarechtwidrig. Als untergesetzliche Norm darf er nicht mehr angewandt werden und sollte kurzfristig in neuer Form erlassen werden. | Rn. 13 |
Der „Führerscheintourismus“ wird erleichtert. Wer nach Entzug der Fahrerlaubnis in Deutschland keine Möglichkeit hat, seine Erlaubnis zurück zu erhalten – etwa wegen wiederholten Nichtbestehens der Medizinisch-Psychologischen Begutachtung - kann im europäischen Ausland eine Fahrerlaubnis erwerben, die in Deutschland ohne Wenn und Aber anerkannt werden muss. Voraussetzung ist lediglich, dass in der ausländischen Fahrerlaubnis ein Wohnsitz des entsprechenden Ausstellermitgliedsstaates eingetragen ist und sich nicht aus unbestreitbaren Informationen ergibt, dass es sich dabei um eine Schein-Eintragung handelt. Die Verwaltungsbehörden und Gerichte, die gegen den „Führerscheintourismus“ vorgehen wollen, werden sich in Zukunft darauf konzentrieren müssen, durch akribische Ermittlungen und Kooperationen mit ausländischen Behörden diesen Nachweis zu führen. Dabei besteht die Befugnis, aber auch die Verpflichtung, die vom Ausstellermitgliedsstaat stammenden Informationen erforderlichenfalls daraufhin zu bewerten und zu beurteilen, ob sie „unbestreitbar“ sind und ob sie belegen, dass der Inhaber des streitgegenständlichen Führerscheins im Zeitpunkt der Erteilung seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Ausstellermitgliedsstaat hatte. [15] Andere Argumente wie insbesondere die (nachgewiesene) Ungeeignetheit des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen können der Anerkennung der ausländischen Fahrerlaubnis jedenfalls nicht mehr entgegengehalten werden. | Rn. 14 |
Fußnoten
* Prof. Dr. Frank Hofmann ist Professor für Straf- und Strafprozessrecht sowie Polizei- und Ordnungsrecht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Lehrbeauftragter am Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bundesfinanzverwaltung und Dozent am Studieninstitut Westfalen-Lippe.
[1] | ABl. L 403, 18; einen Überblick über die Neuregelung gibt Geiger, DAR 2010, 121; eine ausführliche Analyse findet sich bei Geiger, DAR 2010, 557. |
[2] | Dritte Änderungsverordnung zur Fahrerlaubnisverordnung vom 07.01.2009 (BGBl. I, S. 29) |
[3] | BayVGH, Beschl. v. 22.02.2007 - 11 CS 06.1644, ZfS 2007, 354. |
[4] | Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 26.06.2008 - C 329/06 (Wiedemann) und C 343/06 (Funk), NJW 2008, 2403; EuGH, Beschl. v. 09.07.2009 - C 445/08 (Wierer), NJW 2010, 217; BVerwG, Urt. v. 25.02.2010 - 3 C 15/09, DAR 2010, 341; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.10.2009 - 10 S 2024/09, SVR 2010, 34. |
[5] | Vgl. Art. 12 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2006/126/EG, Art. 9 Unterabsatz 1 der Richtlinie 91/439/EWG. |
[6] | VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.10.2009 - 10 S 2024/09, SVR 2010, 34 mit Anm. Geiger; OVG Münster, Urt. v. 22.02.2012 – 16 A 2527/07, zitiert nach juris. |
[7] | OVG Münster, Urt. v. 22.02.2012 - 16 A 1529/09, zitiert nach juris. |
[8] | Bejahend OLG München, Beschl. v. 30.03.2012 - 4 St RR 32/12, VRR 2012, 163; verneinend OVG Saarlouis, Urt. v. 02.12.2009 – 1 A 358/09, DAR 2010, 281. |
[9] | Aus der Literatur etwa Morgenstern, NZV 2008, 425; Hailbronner, NZV 2009, 361; Janker, DAR 2009, 181; Leitmeier, NZV 2010, 377; Pießkalla, NZV 2009, 479; Scheidler, NZV 2012, 66. |
[10] | VGH München, Beschl. v. 21.12.2009 - 11 CS 09/1791, DAR 2010, 103; Beschl. v. 07.10.2010 - 11 CS 10.1380, NJW 2011, 1380; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 07.09.2011 – 1 S 190/10, NZV 2011, 624; Beschl. v. 22.09.2011 – 1 S 10/11, zitiert nach juris; OLG Hamburg, Urt. v. 29.09.2011- 3-44/11(Rev), DAR 2011, 647; OVG NW, Beschl. v. 16.06.2011 – 16 B 72/11, Blutalkohol 2011, 253; OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.05.2010 – 2 Ss 269/10, DAR 2010, 481; VGH Mannheim, Beschl. v. 21.01.2010 – 10 S 2391/09, DAR 2010, 153 |
[11] | OVG Koblenz, Beschl. v. 04.12.2009 – 10 B 1 1127/09, DAR 2010, 163; Vorinstanz: VG Koblenz, Beschl. v. 22.09.2009 – 5 L 979/09.KO, DAR 2010, 160; Hess. VGH - Beschl. v. 04.12.2009, Blutalkohol 2010, 154; OVG Saarlouis ,Beschl. v. 16.06.2010 – 1 B 204/10, DAR 2010, 598. |
[12] | BVerfG, Beschl. v. 22.09.2011 – 2 BvR 947/11, DAR 2012, 14. |
[13] | C-467/10 – Fall Akyüz , DAR 2012, 192; Anmerkungen von Geiger, DAR 2012, 197 und Dauer, NJW 2012, 1345. |
[14] | C-419/10 – Fall Hofmann (es besteht keine Verwandtschaft zum Autor). |
[15] | BayVGH, Beschl. v. 03.05.2012 – 11 Cs 11.2795. |