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OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 25.04.2012 – 3 M 100/12 – „Kinderschänder raus!“

ZVR-Online Dok. Nr. 22 – online seit 18.07.2012

Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, Art. 8 Abs. 1 GG, § 15 Abs. 1 VersG, § 37 Abs. 1 VwVfG

Leitsatz der Redaktion

Dienen wöchentlich vor dem Wohnhaus eines ehemaligen Strafgefangenen durchgeführte Versammlungen dem Zweck, mit der physischen Präsenz der Versammlungsteilnehmer, der Verwendung von akustischen Hilfsmitteln, wie Trillerpfeifen und Trompeten und dem Skandieren von Parolen, einen Vertreibungsdruck zu erzeugen, der den ehemaligen Strafgefangenen zur Aufgabe des von ihm gewählten Wohnsitzes zwingen soll, so verletzt dies seine Menschenwürde. Weiteren Angriffen entgegenzuwirken entspricht der Schutzpflicht des Staates.Rn. 1

Gründe

Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die mit Schriftsatz vom 19. April 2012 zur Begründung der Beschwerde vorgebrachten Einwände, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, greifen im Wesentlichen nicht durch.Rn. 2
I) Das Verwaltungsgericht hat die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin gegen die Verfügungen des Antragsgegners vom 29. Februar und 08. März 2012, mit der wegen der für den 02., 09., 16., 23. und 30. März und den 13., 20. und 27. April 2012 unter der Bezeichnung „Sexualstraftäter in A.“ angemeldeten Versammlungen hinsichtlich des Versammlungsortes untersagt worden ist, versammlungsrechtliche Aktivitäten im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich der Wohnung der ehemaligen Strafgefangenen (C-Straße 38 bis 54) zu entfalten, gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu Recht abgelehnt.Rn. 3
1) Entgegen der Auffassung der Antragstellerin genügt die Begründung der sofortigen Vollziehung in der angefochtenen Verfügung den formellen Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Danach ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen. Die Behörde hat hierzu in der Verfügung vom 29. Februar 2012 ausgeführt, ein Zuwarten bis zum Eintritt der Bestandskraft der Verfügung könne angesichts der „Hochwertigkeit der in Rede stehenden Rechtsgüter und der Auswirkungen für die Grundrechte Einzelner“ nicht abgewartet werden, weil ohne eine Anordnung der sofortigen Vollziehung zu befürchten sei, dass es – wie anlässlich vorangegangener Versammlungen im September 2011 – zu nicht hinnehmbaren massiven Schmähungen und Herabwürdigungen der ehemaligen Strafgefangenen kommen werde. Äußerungen wie „Todesstrafe für Sexualstraftäter“ könnten nicht hingenommen werden und seien auch durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nicht gedeckt. Ohne Erfolg macht die Antragstellerin geltend, die Bezugnahme auf das Gewicht der betroffenen Rechtsgüter und die Grundrechte einzelner sei floskelhaft und damit nicht hinreichend einzelfallbezogen. Denn der Antragsgegner stützt seine Auffassung auf die Gefahr einer Wiederholung von Schmähungen und Herabwürdigungen anlässlich früherer Kundgebungen. Damit ist eine auf den Einzelfall abstellende, den Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügende Begründung gegeben. Ob die vom Antragsgegner beispielhaft genannte, von Versammlungsteilnehmern in der Vergangenheit erhobene Forderung nach der „Todesstrafe für Sexualstraftäter“ eine Schmähung und Herabwürdigung ist, ist keine Frage des formellen Begründungserfordernisses i. S. d. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, sondern der inhaltlichen Richtigkeit der Anordnung.Rn. 4
2) Die Voraussetzungen für ein Einschreiten der Versammlungsbehörde sind erfüllt. Nach § 15 Abs. 1 VersammlG kann die zuständige Behörde die Versammlung verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei der Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit stand im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Verfügungen vom 29. Februar und 12. März 2012 unmittelbar bevor. Nach der Anmeldung der Antragstellerin waren für die Versammlungen jeweils 100 Teilnehmer zu erwarten. Bei einer Durchführung der Demonstration unmittelbar vor dem Wohnhaus der ehemaligen Strafgefangenen in der C-Straße würde dies für die Dauer der Kundgebungen dazu führen, dass den ehemaligen Strafgefangenen die Ausübung ihres Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, namentlich das Recht, ihr Wohnhaus jederzeit betreten und verlassen und sich darin ungestört aufhalten zu können (vgl. OVG Koblenz, Beschl. v. 24.05.1986 – 7 B 36/86 –, NJW 1986, 2659), allein durch die Belagerung des Wohnhauses durch die Versammlungsteilnehmer faktisch verwehrt würde.Rn. 5
3) Die Ermessensausübung durch die Behörde ist nicht zu beanstanden. Das durch Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistete Recht, Versammlungen unter freiem Himmel durchzuführen, wird durch den mit der angefochtenen Auflage einhergehende Eingriff nicht unverhältnismäßig beschränkt. Kollidiert das durch die Versammlungsfreiheit geschützte Recht der Veranstalter und Teilnehmer einer Versammlung, über Gegenstand, Ort und Zeit der Versammlung selbst zu bestimmen, mit verfassungsrechtlich geschützten Rechten Dritter, so sind die widerstreitenden Interessen im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich zu bringen. Die Auflage, nach der den Versammlungsteilnehmern unmittelbar vor dem Wohnhaus der ehemaligen Strafgefangenen im Bereich zwischen den Wohnhäusern C-Straße 38 bis 54 versammlungsrechtliche Aktivitäten untersagt werden, wird dem gerecht. Sie gewährleistet einen Schutz der in dem Straßenzug wohnhaften ehemaligen Strafgefangenen vor mit den wöchentlichen Belagerungen einhergehenden Eingriffen in das ihnen zustehende Recht, sich ungestört in ihrem Wohnhaus aufzuhalten. Greifbare Anhaltspunkte dafür, dass die Versammlungsteilnehmer ihrem Recht auf eine öffentlichkeitswirksame Meinungskundgabe unverhältnismäßig beschränkt werden, werden von der Antragstellerin auch mit der Beschwerde nicht vorgebracht. Soweit die Antragstellerin geltend macht, die ehemaligen Strafgefangenen könnten aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht keinen Anspruch herleiten, nicht auf ihre Vergangenheit „angesprochen“ zu werden, rechtfertigt dies eine andere Bewertung nicht. Zwar trifft es zu, dass ein Straftäter auch mit der Verbüßung einer verhängten Strafe nicht einen uneingeschränkten Anspruch erwirbt, mit der Tat „allein gelassen zu werden“ (so: BVerfG, Beschl. v. 10.06.2009 – 1 BvR 1107/09 – Rdnr. 21 ). Indes haben auch ehemalige Strafgefangene einen Anspruch auf Schutz davor, gerade in ihrem privaten Rückzugsbereich Schmähungen und Beleidigungen ausgesetzt zu werden.Rn. 6
4) Die sofortige Vollziehung liegt im überwiegenden öffentlichen Interesse. Ein wirksamer Schutz der in der Ortschaft A. wohnenden ehemaligen Strafgefangenen, wenigstens in ihrem privaten Wohnumfeld nicht wöchentlich fortwährend Schmähungen und Beleidigungen und einem auf ihre Vertreibung ausgerichteten psychischen Druck ausgesetzt zu sein, überwiegt das Interesse der Versammlungsteilnehmer, einstweilig von der Vollziehung der Auflage verschont zu bleiben. Dabei ist nach Auffassung des Senats zu berücksichtigen, dass die seit September 2011 – mit gewissen zeitlichen Unterbrechungen – wöchentlich vor dem Wohnhaus der ehemaligen Strafgefangenen durchgeführten Versammlungen den Zweck hatten und haben, mit der physischen Präsenz der Versammlungsteilnehmer, der Verwendung von akustischen Hilfsmitteln, wie Trillerpfeifen und Trompeten und dem Skandieren von Parolen („Wir kommen wieder bis ihr geht – Raus aus A.“, „Frauenschänder raus aus A.“, Kinderschänder raus aus A.“ ) einen Vertreibungsdruck zu erzeugen, der die ehemaligen Strafgefangenen zur Aufgabe des von ihnen gewählten Wohnsitzes zwingen soll. Diese nach dem dokumentierten Ablauf der Versammlungen in der Vergangenheit und wöchentlich wiederholte gezielte massive Einwirkung auf die Willensentschließungsfreiheit der betroffenen ehemaligen Strafgefangenen ist objektiv betrachtet auf eine Zermürbung der Adressaten angelegt. Sie dient bei verständiger Würdigung mit der wiederkehrenden physischen Präsenz der Versammlungsteilnehmer unmittelbar vor dem Wohnhaus und dem in den privaten Rückzugsbereich der ehemaligen Strafgefangenen einwirkenden Lärm und den Vertreibungsparolen dazu, den Willen der Adressaten zu beugen. Solche massiven Angriffe verletzen die Menschenwürde der ehemaligen Strafgefangenen. Weiteren Angriffen entgegenzuwirken entspricht der Schutzpflicht des Staates (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), so dass die Auflage nicht zu beanstanden und ihre sofortige Vollziehung zur Verhinderung von Verletzungen der öffentlichen Sicherheit notwendig ist.Rn. 7
II) Teilweise Erfolg hingegen hat die Beschwerde, soweit der Antragstellerin mit den Verfügungen aufgegeben worden ist, die „Beschränkungen 1-6 (…) den Versammlungsteilnehmern vor Ort ggf. auch wiederholt bekannt zu geben.“Rn. 8
Soweit der Antragstellerin als Versammlungsleiterin aufgegeben wird, den Versammlungsteilnehmern vor Ort jeweils sämtliche Kundgebungstage mitzuteilen (Zifer 1 Satz 1), ist nicht ersichtlich, weshalb dies zum Schutz der öffentlichen Sicherheit geboten sein soll. Ebenfalls nicht erforderlich ist es, der Versammlungsleiterin aufzugeben, bekanntzugeben, dass sie – die Versammlungsleiterin – sich 15 Minuten vor Beginn der Versammlung am Versammlungsort einzufinden und mit der Versammlungsbehörde oder der Polizei Kontakt aufzunehmen hat (Ziffer 3). Auch nicht ersichtlich ist, weshalb es zur Gefahrenabwehr notwendig sein soll, dass die Versammlungsleiterin den Versammlungsteilnehmern mitteilt, dass sie – die Versammlungsleiterin – verpflichtet ist, die Beschränkungen vor Ort bekanntzugeben (Ziffer 6).Rn. 9
Nicht hinreichend bestimmt i. S. d. § 37 Abs. 1 VwVfG ist die Auflage in der Ziffer 6, soweit der Versammlungsleiterin aufgegeben wird, unter nicht näher benannten Umständen („ggf.“) die Beschränkungen nochmalig bekannt zu machen. Weder der Verfügung, noch ihrer Begründung ist hinlänglich deutlich zu entnehmen ist, welche Umstände gegeben sein müssen, um die Pflicht zur wiederholten Bekanntgabe auszulösen. Soweit das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss ausgeführt hat, diese Pflicht zur Wiederholung bestehe nur, wenn der Inhalt nachträglich hinzukommenden Teilnehmern noch nicht bekannt gegeben worden ist, überzeugt dies den Senat nicht. Der Wortlaut der Verfügung und ihre Begründung geben dafür nicht genügend her. Nach dem Wortlaut der Verfügung sind die Voraussetzungen für eine Pflicht zur wiederholten Bekanntgabe nicht geregelt. Die Begründung lässt eine genügend deutliche Beschränkung ebenfalls nicht erkennen. Das Hinzutreten weiterer Versammlungsteilnehmer mag ein von der Behörde in Betracht gezogener Anwendungsfall für das Eingreifen der Pflicht zur Wiederholung der Bekanntgabe sein. Indes macht die Antragstellerin mit der Beschwerde zutreffend geltend, dass die Wiederholung einer Bekanntgabe an einen Adressatenkreis nach dem Wortsinn voraussetzt, dass die Bekanntgabe bereits erfolgt ist. Denkbar ist somit auch, dass die Pflicht zur Wiederholung sich auch auf denselben Teilnehmerkreis beziehen kann und die Funktion einer bestätigenden Ermahnung haben soll. Was letztlich gemeint ist, lässt sich dem allein maßgeblichen Inhalt der Verfügung nicht mit genügender Sicherheit entnehmen.Rn. 10
Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass die Pflicht der Antragstellerin, den Versammlungsteilnehmern vor Ort jedenfalls einmalig bekanntzugeben, dass die Versammlung um 18.00 Uhr beginnt und um 19.00 Uhr endet (Ziffer 1 Satz 2), dass jedwede versammlungsrechtliche Aktivität im Bereich C-Straße 38 und der Zufahrt zum Grundstück C-Straße 54 untersagt ist (Ziffer 2), dass Wortkundgebungen, Transparente und dergleichen keine strafbaren Inhalte haben und nicht zum Hass oder zur Gewalt gegen die ehemaligen Strafgefangenen aufrufen dürfen (Ziffer 4) und unter welchen einschränkenden Voraussetzungen Beschallungsanlagen und Megafone nur eingesetzt werden dürfen (Ziffer 5), unberührt bleibt.Rn. 11
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes für das Verfahren im zweiten Rechtszug beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Der Beschluss ist unanfechtbar.Rn. 12