Skip to main content

VG Kassel, Beschl. v. 09.09.2013 – 4 L 1117/13.KS – „Der Wahlwerbeslogan ‚Geld für die Oma statt für Sinti und Roma‘ unterfällt der Meinungsfreiheit“

ZVR-Online Dok. Nr. 60/2013 – online seit 19.09.2013

Art. 5 Abs. 1 GG, § 130 Abs. 1 StGB, § 11 HSOG

Leitsätze der Redaktion

1. In einer demokratischen Gesellschaft müssen auch abwegige Meinungen ertragen werden, solange sie nicht strafrechtlichen Charakter aufweisen.Rn. 1
2. Obwohl Wahlplakate mit der Aufschrift „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ in einer geschmacklosen Weise an dumpfe Ressentiments anknüpfen und verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen, liegt darin noch keine Strafbarkeit.Rn. 2

Gründe

Der Antrag der Antragstellerin,

die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, die von ihr abgehängten Wahlplakate der Antragstellerin mit der Aufschrift „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ im Ge-biet der Stadt A-Stadt unverzüglich wieder an ihren ursprünglichen Standorten aufzu-hängen,

ist begründet, weil die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat.
Rn. 3
Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus dem öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch. Das Abhängen der genannten Wahlplakate war rechtswidrig.Rn. 4
Dabei kann dahinstehen, ob sich das Abhängen der Wahlplakate rechtlich als eine unmittelbare Ausführung (§ 8 HSOG) oder ein Sofortvollzug (§ 47 Abs. 2 HSOG) darstellt. Denn in jedem Fall fehlt es an den Voraussetzungen einer (fiktiven) Grundverfügung. Nach § 11 HSOG können die zuständigen Behörden die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Zu den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit zählt u. a. die Unversehrtheit der objektiven Rechtsordnung. Die genannten Wahlplakate verletzen die Rechtsordnung nicht, weil sich ihr Inhalt nicht unter § 1GB subsumieren lässt.Rn. 5
Wegen Volksverhetzung wird bestraft, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert (§ 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Ferner wird bestraft, wer Schriften, die zum Hass gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer dadurch angreifen, Teile der Bevölkerung oder eine vorbezeichnete Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden, verbreitet, öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht (§ 130 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) und b) StGB).Rn. 6
Bei der Auslegung und Anwendung von § 130 StGB sind insbesondere die aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beachten, damit die „wertsetzende Bedeutung des Kommunikationsgrundrechts auf der Normanwendungsebene“ zur Geltung kommt. Bei der Normauslegung erfordert Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine im Rahmen der Tatbestandsmerkmale der betreffenden Gesetze vorzunehmende Abwägung zwischen der Bedeutung einerseits der Meinungsfreiheit und andererseits des Rechtsguts, in dessen Interesse sie eingeschränkt worden ist. Damit verbietet sich eine Interpretation der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Strafvorschrift, welche die Erfordernisse des zu schützenden Rechtsguts überschreitet. Auch auf der „Deutungsebene“ haben die Gerichte verfassungsrechtliche Anforderungen zu beachten. Voraussetzung der Subsumtion einer Äußerung oder eines Verhaltens unter die Tatbestandsmerkmale des § 130 StGB ist, dass die Gerichte den Sinn der umstrittenen Äußerung zutreffend erfassen. Dabei haben sie nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten. Ist eine Äußerung mehrdeutig, so haben die Gerichte, wollen sie die zu einer Verurteilung führende Deutung ihrer rechtlichen Würdigung zugrunde legen, andere Auslegungsvarianten mit schlüssigen Gründen auszuscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.09.2000 - 1 BvR 1056/95 -, juris Rn. 35 f. m. w. N.). Gründe dieser Art können sich zum Beispiel aus den Umständen ergeben, unter denen die Äußerung gefallen ist. Auch frühere eigene Kundgebungen einer politischen Partei kommen in Betracht, wenn zu ihnen ein eindeutiger Bezug hergestellt wird (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24.09.2009 - 2 BvR 2179/09 -, juris Rn. 8 m. w. N.).Rn. 7
Gemessen an diesen Maßstäben kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass die Antragstellerin mit den von ihr im öffentlichen Straßenraum verbreiteten Plakaten den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt, denn es sind Auslegungen des Plakatinhalts denkbar, die nicht strafbar sind. Dazu im Einzelnen:Rn. 8
Die Plakate mit der Aufschrift „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“, auf denen außer dem Logo der Antragstellerin im Hintergrund das Konterfei einer älteren Frau zu sehen ist, könnten allenfalls eine Aufforderung zu Willkürmaßnahmen darstellen. Willkürmaßnahmen sind rechtswidrige, diskriminierende, auf Schädigung oder Benachteiligung abzielende Maßnahmen (Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 130 Rdnr. 10). Es ist denkbar, die Aussage des Plakats dahingehend auszulegen, dass den Sinti und Roma unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) und damit diskriminierend, rechtswidrig und willkürlich die ihnen zustehenden sozialen Leistungen genommen werden und das so ersparte Geld der älteren Generation zukommen soll. Genauso ist es denkbar, die Aussage des Plakats dahingehend auszulegen, dass weitere staatliche Mittel eher der älteren Generation als der Bevölkerungsgruppe der Sinti und Roma zukommen sollen; diese Forderung würde keine Volksverhetzung darstellen. Das Gericht sieht sich außer Stande, diese zweite Auslegungsvariante mit schlüssigen Gründen auszuscheiden. Dies gilt auch im Hinblick auf den von der Antragsgegnerin hergestellten Zusammenhang zu einer Kampagne der Antragsstellerin mit dem Slogan „Zigeunerflut stoppen! Kriminalität bekämpfen!“. Die Antragstellerin hat unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ihres stellvertretenden Parteivorsitzenden glaubhaft gemacht, dass im laufenden Wahlkampf für die Bundestagswahl am 22.09.2013 kein Plakat mit der Aufschrift „Zigeunerflut stoppen! Kriminalität bekämpfen!“ Verwendung findet. Lediglich in Nordrhein-Westfalen habe es ein vom dortigen Landesverband vertriebenes, postkartengroßes Flugblatt mit dieser Aufschrift gegeben; die Verteilung dieses Flugblattes sei nach Intervention ihres Bundesvorstands lange vor Beginn des Bundestagswahlkampfs eingestellt worden. Damit ist ein Zusammenhang der in der Stadt A-Stadt abgehängten Plakate mit der beendeten Kampagne in einem anderen Bundesland nicht gegeben. Auch wenn die abgehängten Plakate in einer geschmacklosen Weise an dumpfe Ressentiments an-knüpfen und verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen, liegt darin noch keine Strafbarkeit. In einer demokratischen Gesellschaft müssen auch abwegige Meinungen ertragen werden, solange sie nicht strafrechtlichen Charakter aufweisen. Es bleibt den solche Plakate wahrnehmenden Menschen überlassen, unter Betätigung gesunden Menschenverstandes die richtigen Schlussfolgerungen zu treffen (ebenso VG B-Stadt, Beschluss vom 07.09.2011 – 1 L 203.11 -).Rn. 9
Die Antragsgegnerin kann nicht einwenden, sie sei zur Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes nicht in der Lage, weil sie die abgehängten Plakate der örtlichen Kriminalpolizei auf deren Anforderung aufgrund strafrechtlicher Ermittlungen ausgehändigt habe. Abgesehen davon, dass dieser Vortrag nicht glaubhaft gemacht ist, ist es Sache der Antragsgegnerin, die Plakate – etwa unter Vorlage dieses Beschlusses – von der Polizei herauszuverlangen.Rn. 10
Der weitere Antrag der Antragstellerin,

der Antragsgegnerin einstweilen zu untersagen, Wahlplakate der Antragstellerin mit der Auf-schrift „Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ im Gebiet der Stadt A-Stadt ohne rechtferti-genden Grund abzuhängen,

ist wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil die Antragsgegnerin unwidersprochen vorgetragen hat, dass es in ihrem Stadtgebiet keine solchen Plakate mehr gibt.
Rn. 11
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 S. 1 VwGO.Rn. 12
Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in §§ 52, 53 GKG. Dabei bringt das Gericht im vorliegenden Eilverfahren für die beiden Begehren der Antragstellerin jeweils den halben Auffangbetrag zum Ansatz.Rn. 13