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VG Koblenz, Urt. v. 04.06.2013 – 1 K 1009/12.KO – „Soldat haftet nur für grob fahrlässig oder vorsätzlich verursachte Unfälle“

ZVR-Online Dok. Nr. 67/2013 – online seit 04.11.2013

§ 7 SG, § 24 Abs. 1 SG

Leitsatz der Redaktion

Ein Soldat, der beim Führen eines Dienstfahrzeuges einen Überholvorgang unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durchführt und damit die im Verkehr übliche Sorgfalt nicht beachtet, wodurch es zu einem Unfallschaden an den von ihm und dem Unfallgegner geführten Dienstfahrzeugen kommt, verletzt seine aus § 7 SG folgende allgemeine Treuepflicht.Rn. 1

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Leistungsbescheid der Beklagten, mit dem er zur Zahlung eines Betrages von 2.114,70 € aufgefordert wird.Rn. 2
Der Kläger, der im Dienstgrad eines Hauptmanns als Soldat auf Zeit im Dienst der Beklagten steht, war im Frühjahr 2011 in Afghanistan eingesetzt. Am 6. April 2011 befuhr er gegen 10:10 Uhr Ortszeit bei sonnigem Wetter und guten Sichtverhältnissen mit seinem Dienstfahrzeug der Marke TOYOTA, Typ Land Cruiser, in südwestlicher Richtung die Flughafenstraße im Camp Marmal, Baufeld ..., in Mazar-e-Sharif. Nach der Campordnung gilt im gesamten Camp Marmal 20 km/h. Auf Höhe der südöstlich von der Flughafenstraße abzweigenden Einfahrt zur „I. Meile“ kam es zu einem Verkehrsunfall mit dem von Oberfeldwebel (OFw) A. geführten Fahrzeug der Marke Mercedes-Benz, Typ Wolf. Der Kläger befand sich im Überholvorgang, als das vor ihm fahrende Fahrzeug ansetzte, nach links in die „I. Meile“ abzubiegen, so dass beide Fahrzeuge zusammenstießen. Dabei beschädigte der Kläger mit der rechten Vorderfront seines Fahrzeugs das Fahrzeug des Unfallgegners auf Höhe dessen linken Hinterrades. Hierdurch entstand ein Sachschaden am Fahrzeug des Klägers in Höhe von 1.359,70 € und am Fahrzeug des Unfallgegners in Höhe von 755 €.Rn. 3
Bei der Unfallaufnahme durch zwei der Einheit des Unfallgegners MN MP Coy MES angehörige Feldjäger (German Military Police - MP) wurde eine Bremsspur des vom Kläger geführten Fahrzeugs von 13,30 m festgestellt. Nach Einschätzung der MP habe sich der Unfallgegner des Klägers ordnungsgemäß verhalten, seineRn. 4
Geschwindigkeit vor dem Einfahren in die „I. Meile“ rechtzeitig reduziert und den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt. Bezüglich des Klägers sei anhand der Bremsspur davon auszugehen, dass er durch eine erhöhte Geschwindigkeit nicht rechtzeitig zum Stehen gekommen sei. Der Kläger hatte gegenüber der MP angegeben, dass das vor ihm fahrende Fahrzeug mit geringer Geschwindigkeit gefahren sei. Um es zügig zu überholen und andere Verkehrsteilnehmer nicht unnötig zu behindern, habe er die Geschwindigkeit leicht erhöht. Für ihn sei das Blinken des vor ihm fahrenden Fahrzeugs nicht ersichtlich gewesen. Ebenso seien keine Anzeichen erkennbar gewesen, dass das Fahrzeug abbiegen würde. Zum Zeitpunkt des Unfalls sei er nach Tachoanzeige 25 km/h gefahren. OFw A. gab an, den Fahrtrichtungsanzeiger links betätigt und anschließend seine Geschwindigkeit auf 6-10 km/h verlangsamt zu haben. Während des Abbiegevorganges habe er ein lautes Quietschen gehört. Er habe nach links geschaut und einen schwarzen Geländewagen auf sich zurutschen gesehen. Sein Beifahrer OFw B., von derselben Feldjägereinheit, gab an, dass OFw A. ca. 20 m vor dem Abbiegevorgang den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt und vor dem Abbiegen angemessen die Geschwindigkeit herabgesetzt habe.Rn. 5
Bei seiner Vernehmung am 14. April 2012 durch seinen Kompaniechef gab OFw A. ergänzend an, vor dem Abbiegevorgang in den Spiegel geschaut und einen Schulterblick gemacht zu haben. Dabei habe er keine Gefahr erkennen können. Danach habe er seine Geschwindigkeit von 20 km/h auf 6-10 km/h verlangsamt und den Abbiegevorgang begonnen.Rn. 6
In der Meldung über den Verkehrsunfall vom 25. April 2011 führte die nächsthöhere Dienststelle des Klägers aus: „Es ist ein Unfall resultierend aus dem täglichen Lagerbetrieb, wie er täglich vorkommen kann. Im persönlichen Gespräch mit OL C... (= Kläger) und unter Vorlage des RTA Reports konnte ein grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten festgestellt werden.“Rn. 7
Nach Einholung einer Gutachterlichen Stellungnahme des Majors Dipl.-Ing. (FH) D... vom 12. September 2011, wonach die vom Kläger zum Unfallzeitpunkt gefahrene Geschwindigkeit mindestens 40 km/h betragen habe, wurde der Kläger vom Chef des Stabes des Kommandos Strategische Aufklärung Oberst E. am 20. Oktober 2011 als Beschuldigter zum Unfallhergang vernommen. Dabei wiederholte er sein bisheriges Vorbringen. Oberst E. hob in seiner Vorlage der Niederschrift gegenüber dem Bundesamt für Wehrverwaltung unter dem 25. Oktober 2011 hervor, dass kein grob fahrlässiges oder gar vorsätzliches Verhalten des Soldaten vorliege und der Satz in der Stellungnahme vom 25. April 2011 lauten müsse „... konnte ein grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten nicht festgestellt werden“, da seines Erachtens ein Schreibfehler vorliege.Rn. 8
Nach vorheriger Anhörung forderte die Beklagte den Kläger mit Leistungsbescheid vom 2. April 2012 zur Zahlung eines Betrages von 2.114,70 € auf, weil er grob fahrlässig gegen sein Pflichten aus § 7 Soldatengesetz (SG) verstoßen und dadurch der Bundesrepublik Deutschland einen Schaden zugefügt habe. Er habe nämlich das vor ihm fahrende Fahrzeug unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bei einem Abbiegevorgang verkehrsrechtswidrig überholt. Hiervon hätte er zwingend absehen müssen, weil jenes Fahrzeug sich bereits mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bewegt habe. Zudem habe es unter Reduzierung seiner Geschwindigkeit den Fahrtrichtungswechsel rechtzeitig angezeigt, so dass der Kläger damit habe rechnen müssen, dass dieses in Kürze nach links abbiege. Entscheidend sei jedoch, dass das Überholmanöver unmittelbar in einem Kreuzungsbereich vorgenommen worden sei, in dem jederzeit mit Gegenverkehr und abbiegenden Fahrzeugen gerechnet werden müsse. Zudem habe der Kläger die vorgegebene Höchstgeschwindigkeit um mindestens das Doppelte überschritten. Jeder durchschnittliche Bürger und Soldat hätte von dem riskanten Überholmanöver abgesehen. Deshalb sei das Fahrverhalten des Klägers schlichtweg unentschuldbar. Die Behauptung, das vorausfahrende Fahrzeug habe keinen Blinker gesetzt, sei eine durch die Zeugenaussagen der Besatzung dieses Fahrzeugs widerlegte Schutzbehauptung und im Übrigen rechtlich unerheblich.Rn. 9
Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Klägers wies die Beklagte mit Beschwerdebescheid vom 2. Oktober 2012 im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Gründe des Leistungsbescheides zurück.Rn. 10
Mit seiner Klage vom 25. Oktober 2012 verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er hebt unter Vertiefung seines bisherigen Vorbringens sowie unter Vorlage eines unfallanalytischen Gutachtens des Dipl.-Ing. (FH) F. vom 27. Mai 2013 hervor, dass der Unfallgegner keinen Fahrtrichtungsanzeiger betätigt habe und der Unfall hätte vermieden werden können, wenn dieser in seinen Rückspiegel geschaut hätte. Das vorausfahrende Fahrzeug sei nicht 20 km/h schnell, sondern deutlich langsamer gefahren und habe den Verkehr behindert sowie Dreck und Steine aufgewirbelt. Auch habe sich der Unfall nicht in einem Kreuzungsbereich ereignet, da es lediglich eine Einfahrt nach links gegeben habe.Rn. 11
Der Kläger beantragt,

den Leistungsbescheid des Bundesamtes für Wehrverwaltung vom 2. April 2012 in Gestalt des Beschwerdebescheids vom 2. Oktober 2012 aufzuheben.
Rn. 12
Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.
Rn. 13
Sie tritt dem Klägervorbringen unter Bezugnahme auf den Leistungs- und Beschwerdebescheid entgegen. Es sei unzutreffend, dass das vor dem Kläger fahrende Fahrzeug Dreck und Steine aufgewirbelt und den Verkehr behindert habe. Zudem lasse das Vorbringen des Klägers darauf schließen, dass er den Mindestsicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug unterschritten habe.Rn. 14
Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus den zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätzen der Beteiligten sowie aus der vorgelegten Verwaltungs- und Beschwerdeakte, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.Rn. 15

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.Rn. 16
Der Leistungsbescheid des Bundesamtes für Wehrverwaltung vom 2. April 2012 ist in Gestalt des Beschwerdebescheids vom 2. Oktober 2012 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Absatz 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).Rn. 17
Der angefochtene Leistungsbescheid findet in § 24 Absatz 1 SG keine rechtliche Grundlage. Danach hat ein Soldat, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die ihm obliegenden Pflichten verletzt, dem Dienstherrn, dessen Aufgaben er wahrgenommen hat, den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.Rn. 18
Zwar hat der Kläger die ihm gem. § 7 SG gegenüber seinem Dienstherrn obliegende allgemeine Treuepflicht verletzt, indem er beim Führen eines Dienstfahrzeuges einen Überholvorgang unter Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durchgeführt und damit die im Verkehr übliche Sorgfalt nicht beachtet hat, wodurch es zu einem Unfallschaden an den von ihm und dem Unfallgegner geführten Dienstfahrzeugen kam, den er durch sein rechtswidriges Verhalten zumindest mitverursacht hat.Rn. 19
Allerdings hat der Kläger hierbei nicht grob fahrlässig oder gar vorsätzlich gehandelt. Eine grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die verkehrserforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in besonders schwerem Maße verletzt worden ist, wenn ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder beiseite geschoben worden sind und das unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Fall sich jedem hätte aufdrängen müssen (BVerwG, Urt. v. 17.09.1964, NJW 1965, NJW Jahr 1965 Seite 458; BVerwG, Urt. v. 25.05.1988, DVBl 1988, DVBL Jahr 1988 Seite 1067).Rn. 20
Dem Kläger ist lediglich vorzuwerfen, bei seinem Überholvorgang die zulässige Höchstgeschwindigkeit um (mindestens) 20 km/h überschritten zu haben. Dieses Verhalten ist unter Würdigung der Gesamtumstände indes nicht als grob fahrlässig anzusehen. Zum einen ist es eine durchaus plausible und keineswegs fernliegende Überlegung, die Geschwindigkeit während eines Überholvorganges kurzfristig über das erlaubte Maß hinaus zu erhöhen, um den Überholvorgang und die damit verbundene erhöhte Gefährdungssituation für sich und andere Verkehrsteilnehmer möglichst schnell abzuschließen. Dieses Handlungsmotiv nimmt der Pflichtverletzung zwar nicht ihre Rechtswidrigkeit, erlaubt auf der anderen Seite aber auch nicht den Schluss auf ihre besondere Schwere.Rn. 21
Auch die übrigen Umstände geben für eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers nichts her. Die Straßenverhältnisse erlaubten ohne weiteres einen Überholvorgang. Es bestand kein Überholverbot, auch die Verkehrslage ließ ein Überholen zu und die Sichtverhältnisse auf der geradlinig verlaufenden Straße waren mit über 1.000 m bei seitlichem Sonnenstand hervorragend. Soweit die Beklagte meint, der Überholvorgang sei in einem unübersichtlichen Kreuzungsbereich vorgenommen worden, geht sie von einem unzutreffenden Sachverhalt aus, da in diesem Bereich lediglich in Form einer sog. „T-Kreuzung“ von links die Straße aus der „I. Meile“ auf die Flughafenstraße stößt, deren Benutzer den von rechts kommenden Verkehr auf der Flughafenstraße zu beachten haben. Die im Beschwerdebescheid erwähnten Gebäude und Container beeinträchtigten nicht die für den Überholvorgang maßgeblichen Sichtverhältnisse auf der Flughafenstraße, so dass dahinstehen kann, ob die Lichtbilder vom Mai 2012 (Bl. 157 ff. der Verwaltungsakte), auf die sich der Beschwerdebescheid stützt, den Zustand wiedergeben, der zum Zeitpunkt des Unfalls am 6. April 2011 herrschte. Der Kläger musste bei seinem Überholvorgang auch nicht mit einem unvermittelten Linksabbiegen des zu überholenden Fahrzeugs rechnen, da er angesichts der herrschenden Straßen- und Sichtverhältnisse bei einem verkehrsgerechten Verhalten des Führers jenes Fahrzeuges, der vor dem Einordnen und nochmals vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr zu achten hatte (vgl. § 9 Absatz 1 Satz 4 Halbsatz 1 Straßenverkehrs-Ordnung), davon ausgehen konnte, von diesem gesehen zu werden.Rn. 22
Schließlich kann dem Kläger auch nicht seine Einlassung widerlegt werden, keine Anzeichen für einen Abbiegevorgang des Unfallgegners bemerkt und insbesondere nicht die entsprechende Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers gesehen zu haben. Gegen den Wahrheitsgehalt dieser Angabe spricht insbesondere nicht die Aussage des Unfallgegners bei der Unfallaufnahme durch die MP, den „Blinker“ betätigt zu haben. Nach den Angaben seines Beifahrers soll dies etwa 20 m vor dem Abbiegevorgang geschehen sein. Ob der Fahrtrichtungsanzeiger - die Richtigkeit jener Angaben unterstellt - zu diesem Zeitpunkt für den Kläger überhaupt wahrnehmbar war, hängt von der nicht ermittelten Geschwindigkeit des Fahrzeugs des Unfallgegners und dem ebenfalls nicht bekannten Stadium des Überholvorgangs zu diesem Zeitpunkt ab. Da zudem trotz der insoweit widersprüchlichen Angaben der Unfallbeteiligten die Frage, ob der linke Fahrtrichtungsanzeiger des Mercedes Wolf funktionsfähig und auch betätigt war, weder bei der Unfallaufnahme oder im Anschluss daran durch die Beklagte aufgeklärt wurde, ist zugunsten des Klägers von der Richtigkeit seiner Angaben auszugehen.Rn. 23
Nach alledem teilt das Gericht die Einschätzung der mit den Verhältnissen am Einsatzort vertrauten Vorgesetzten des Klägers Major G. vom 25. April 2011 und Oberst E. vom 25. Oktober 2011 sowie des S 1 PersOffz des Kommandos Spezialkräfte H. vom 26. September 2012, dass es sich bei dem Schadensfall um einen Unfall handelte, der im Lagerbetrieb täglich vorkommen kann, und dem Kläger kein grob fahrlässiges oder gar vorsätzliches Verhalten zum Vorwurf gemacht werden kann.Rn. 24
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Absatz 1 VwGO und der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nummer 11, § 711 Zivilprozessordnung (ZPO).Rn. 25