VG Weimar, Beschl. v. 11.10.2013 – 1 E 1002/13 We – „Kuttenverbot“
ZVR-Online Dok. Nr. 70/2013 – online seit 13.12.2013
Art. 2 Abs. 1 GG, § 17 Abs. 1 ThürOBG
Leitsätze der Redaktion
1. Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht. | Rn. 1 |
2. Eine abstrakte Gefahr kann nur im Wege einer Verordnung und folglich nicht mittels einer Allgemeinverfügung geregelt werden. | Rn. 2 |
Gründe
Der am 10.10.2013 bei dem Verwaltungsgericht Weimar eingegangene Antrag des Antragstellers, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, dem Antragsteller beim Betreten der Veranstaltungsfläche des Weimarer Zwiebelmarktes wegen Tragens von Kleidung mit der Aufschrift „B_____“, der Buchstabenfolge „BFFB", „1%er“ und/oder „1% in Raute“ oder des Bildzeichens „dicker Mexikaner“ einen Platzverweis zu erteilen, ist zulässig und begründet. | Rn. 3 |
Gemäß § 123 Abs. 1 S. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller einen Anordnungsgrund, mithin die Eilbedürftigkeit und einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat. Dabei ist das Gericht, entsprechend dem Sicherungszweck des Anordnungsverfahrens, grundsätzlich auf den Ausspruch einer vorläufigen Regelung beschränkt, die der Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren nicht vorgreifen darf. Wegen des verfassungsrechtlichen Gebots effektiver Rechtsschutzgewährung (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG)) wird eine solche Vorwegnahme der Hauptsache dann als zulässig erachtet, wenn ein wirksamer Rechtsschutz im ordentlichen Verfahren nicht erreichbar ist und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Folgen führen würde. Ob eine derartige Ausnahmesituation nach den Umständen des Einzelfalls angenommen werden kann, ist u.a. abhängig von der Bedeutung und Dringlichkeit des Rechtsschutzbegehrens, der Tragweite und eventueller Irreparabilität des drohenden Schadens und nicht zuletzt von einer Vorausbeurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache. | Rn. 4 |
Der Antragsteller erstrebt mit dem Antrag vorbeugenden Rechtsschutz auf Unterlassung eines Platzverweises. Das dafür erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse (BVerwGE 71, 183 [188]; Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl., 2013, Vorb § 40 Rdnr. 33) ist vorliegend zu bejahen. | Rn. 6 |
Vorbeugender Rechtsschutz kommt aus Gründen der Gewaltenteilung nur in Betracht, wenn es dem Betroffenen nicht zuzumuten ist, sich auf den von der Verwaltungsgerichtsordnung als grundsätzlich angemessenen und ausreichend angesehenen nachträglichen vorläufigen Rechtsschutz verweisen zu lassen, weil die Gefahr besteht, dass ansonsten vollendete, nicht mehr rückgängig zu machende Tatsachen geschaffen werden oder für den Betroffenen ein nicht wieder gutzumachender Schaden entstünde. Es kann dem Antragsteller nicht zugemutet werden, den Erlass des angekündigten Platzverweises abzuwarten, da am Abend des 11.10.2013 Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten aufgrund der Uhrzeit und des Geschäftsbetriebes sowie der im Rahmen des Zwiebelmarktes zu erwartenden Belastung der Antragsgegnerin nicht ohne erhebliche Verzögerungen und Einschränkungen erreichbar ist und die Ankündigung der beabsichtigten Maßnahmen hinreichend konkret durch die Antragsgegnerin mit der vom Antragsteller in Bezug genommenen Mitteilung (Datum nicht erkennbar, Bl. 9 BA) erfolgt ist. | Rn. 7 |
Der Antrag ist auch in der Sache begründet. Der Antragsteller würde durch die von der Antragsgegnerin angekündigte Maßnahme des Platzverweises im Falle des Tragens bestimmter Kleidungsstücke in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes verletzt. Der Antragsteller hat mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass er durch den von der Antragsgegnerin angekündigten Platzverweis in seinen Rechten aus Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz verletzt wäre. Rechtsgrundlage für die angekündigte Maßnahme des Platzverweises im Falle des Tragens bestimmter Kleidung bildet nicht die ordnungsrechtliche Grundlage des § 17 Abs. 1 Thüringer Ordnungsbehördengesetz (ThürOBG) in der Fassung vom 20.06.2002 (GVBl. S. 247). Die Verfügung des Platzverweises setzt voraus, dass die Maßnahme zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. | Rn. 8 |
Zunächst hat die Antragsgegnerin bislang gegenüber dem Antragsteller kein entsprechendes Verbot des Tragens einer solchen Kleidung erlassen. Die Erteilung eines Hinweises durch Einwurf eines formlosen Schreibens in den Vereinsbriefkasten des MotorradClubs B_____ _____ in der B_____ in _____ W_____ war nicht an einen bestimmten Adressaten gerichtet und ist auch ausweislich der Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 10.10.2013 lediglich als Informationen zu verstehen gewesen. Dementsprechend ist ein Kleidungsaufdruck mit den Buchstaben unter anderem BFFB, wie sie der Antragsteller zu tragen beabsichtigt, nicht verboten. | Rn. 9 |
Die von der Antragsgegnerin vermutete Gefahr kann auch nicht aus der Annahme abgeleitet werden, dass es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Motorrad-Clubs der B_____ einerseits und Anhängern das Motorrad-Clubs der H_____ andererseits oder anderer Motorrad-Clubs komme, wenn Mitglieder dieser jeweiligen Gruppierungen mit deutlich erkennbarer Aufschrift und Zugehörigkeit zu einer jeweiligen Gruppe auf dem Zwiebelmarktgelände zusammentreffen. Eine Gefahr im ordnungsrechtlichen Sinne ist eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintreten wird. Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotenzial (so ausdrücklich: OVG für das Land Schleswig-Holstein, Urteil vom 18.01. 2012, 4 KN 1/1, zitiert nach juris Rdnr. 36). Nach dem Vortrag der Antragsgegnerin liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass das Tragen von Bekleidungsgegenständen oder Emblemen von Mitgliedern der B_____ während der Veranstaltungen des Zwiebelmarktes Weimar 2013 tätliche Auseinandersetzungen oder sonstige erhebliche Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit zur Folge hätten. Zum einen fehlen ausreichende Hinweise dafür, dass Auseinandersetzungen überhaupt stattfinden werden. Die von den Polizeibehörden angeforderte Stellungnahme besagt, dass gravierende Störungen, Straftaten oder der Eintritt sonstiger schädigender Ereignisse bei vergangenen Zwiebelmärkten ausgehend von der Gruppierung „B_____ MC“ nicht zu verzeichnen gewesen sei. Beim Zwiebelmarkt 2012 sei es zu einer Annäherung von Personen des U_____ MC und des B_____ MC gekommen, wobei nur durch massives Polizeiaufgebot ein rivalisierendes Aufeinandertreffen habe verhindert werden können. Diese Aussage allein ohne konkreten Polizeibericht etc., ohne Benennung von Namen konkreten Tätlichkeiten usw. vermag eine Gefahr im oben beschriebenen Sinn nicht zu begründen. | Rn. 10 |
Des Weiteren bestehen erhebliche Zweifel, ob die angekündigte Maßnahme eines Platzverweises für den Fall des Tragens bestimmter Embleme geeignet ist, diese Auseinandersetzung zu verhindern. Dies würde voraussetzen, dass die Mitglieder der unterschiedlichen Clubs einander unbekannt sind. | Rn. 11 |
Soweit die Antragsgegnerin den angekündigten Platzverweis aus dem Jahre 2012 darauf stützt, die Anwesenheit von Personen mit betreffenden Kleidungsgegenständen und Emblemen im öffentlichen Raum und die damit einhergehende ablehnende Haltung von Besuchern des Weimarer Zwiebelmarktes gegenüber Trägern solcher Kleidungsgegenstände sei geeignet, das psychische Wohlbefinden der Besucher zu beeinflussen, fehlt es bereits an der Gefährdung eines geschützten Rechtsguts. Denn Unwohlsein und Unsicherheitsgefühle von Besuchern des Zwiebelmarktes unterliegen nicht dem ordnungsrechtlichen Schutz. Ein solcher kommt nur absoluten Rechtsgütern wie Leib und Leben, Eigentum und durch spezielle Rechtsnormen geschützten Rechtsgütern zu. Solange das Unwohlsein keine Beeinträchtigung von Leib und Leben erreicht, fällt es unter eine bloße Belästigung, die keine ordnungsrechtlichen Maßnahmen rechtfertigt. | Rn. 12 |
Sollte damit eine relevante Einschüchterung der Bevölkerung einhergehen, die möglicherweise Schutzgut der öffentlichen Ordnung sein könnte, fehlt es nach den Ausführungen an der konkreten Gefahr. Eine abstrakte Gefahr kann jedoch nur im Wege einer Verordnung geregelt werden. Das OVG der Hansestadt Bremen hat hierzu unter dem 03.11.2011 (1B 162/11) ausgeführt: | Rn. 13 |
Soweit die Allgemeinverfügung darüber hinaus von der Behörde damit begründet worden war, dass das Tragen der sogenannten "Kutten" zu einer Einschüchterung der Bevölkerung und der Besucher des Stadtteils führe, hat das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich offen gelassen, ob diese Gefahreneinschätzung des Stadtamts zutreffend ist. Sollte die Bevölkerung des Stadtteils tatsächlich durch die Bekleidungsstücke in rechtlich relevanter Weise eingeschüchtert werden, wäre das allein zulässige Instrument der Gefahrenabwehr der Erlass einer Polizeiverordnung mit einem entsprechenden Verbot. Polizeiverordnungen dürften erlassen werden, um sogenannte abstrakte Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren, also Gefahren, die durch allgemeine Verhaltensweisen von Personen begründet werden. Bei ihnen handele es sich, anders als bei einzelfallbezogenen Allgemeinverfügungen, um Rechtsnormen, für deren Erlass das Bremische Polizeigesetz die Zustimmung der Stadtbürgerschaft sowie weitere Formerfordernisse vorsieht. Diese Form- und Verfahrenserfordernisse seien strikt zu beachten. Eine Allgemeinverfügung scheide in diesem Fall als zulässiges Mittel der Gefahrenabwehr aus. | Rn. 14 |
Dem schließt sich die Kammer an. | Rn. 15 |
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung aus § 52 GKG. | Rn. 16 |