Die Klage ist aber unbegründet. Dem Kläger steht der von ihm geltend gemachten öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch nach den allgemeinen Vorgaben des Bundesimmissionsschutzgesetzes nicht zu. Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter besonderer Berücksichtigung seiner Grundrechte. | Rn. 15 |
1. Die beklagte Kirchengemeinde ist nicht nach den allgemeinen Vorgaben des BImSchG zur Unterlassung des morgendlichen Läutens verpflichtet. Zwar kommt dem Verbot des § 22 Abs. 1 Nr. 1 und 2 i.V.m. den Begriffsbestimmungen des § 3 Abs. 1 BImSchG drittschützender Charakter zu. Die Voraussetzungen für die Annahme einer schädlichen Umwelteinwirkung i.S.d. § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG liegen aber nicht vor. Das streitgegenständliche Glockengeläut der Beklagten begründet keine erheblichen Nachteile oder erhebliche Belästigungen für den Kläger. | Rn. 16 |
a. Die akustische Beeinträchtigung, die von Glockengeläut ausgeht, ist grundsätzlich erheblich, wenn das Geläut die Schwellenwerte der TA Lärm übersteigt, und grundsätzlich unerheblich, solange es sich unterhalb dieser Schwellenwerte hält. Für ein Überschreiten der Grenzwerte gibt es im Fall des Betläutens der Beklagten keine Anhaltspunkte. Der Kläger hat eine derartige Überschreitung der Grenzwerte nicht dargelegt. Er hat vielmehr ausdrücklich erklärt, die „Lärmstärke“ spiele für ihn, „soweit sie oberhalb der Hörschwelle, zumindest aber der Weckschwelle“ liege, „keine Rolle“ (Klageschrift, Bl. 13 der Akten 11 K 1705/10 des Verwaltungsgerichts). Der Senat hat auch keine anderweitigen Hinweise auf eine Überschreitung der Schwellenwerte. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts Stuttgart verwiesen. | Rn. 17 |
b. Eine schädliche Umwelteinwirkung ist darüber hinaus nicht gegeben, wenn die Immission herkömmlich, sozial adäquat und allgemein akzeptiert ist (BVerwG, Urt. v. 30.04.1992 - 7 C 25/91 - juris; BVerwG, Beschl. v. 03.05.1996 - 4 B 50/96 - juris). So liegen die Dinge hier. Das morgendliche Läuten ist eine kirchliche Tradition, die im vorliegenden Fall bereits so lange besteht, dass eine genaue Datierung des Beginns nicht möglich ist. Der Kläger bezweifelt zwar, dass die Beklagte das alltägliche Betläuten seit mindestens 1756 regelmäßig praktiziert. Soweit sich sein Vortrag dabei allein darauf stützt, dass es vor 1924 noch kein elektrisches Geläut gegeben habe, handelt es sich aber um eine bloße Mutmaßung. Da das morgendliche Betläuten jedenfalls seit langem den Tageslauf der Gemeinde prägt, ist es „herkömmlich“ im Sinne des Immissionsschutzrechts. | Rn. 18 |
Das Geläut ist auch sozialadäquat und wird allgemein akzeptiert. Vor allem in der ländlichen Bevölkerung wird dem Glockengeläut keineswegs nur eine religiöse, sondern auch eine den Tag gliedernde soziale Funktion zugeschrieben. Die Sozialadäquanz des Läutens von Kirchenglocken steht und fällt dabei nicht mit der Religions- oder gar Konfessionszugehörigkeit der Bevölkerungsmehrheit. Sie ist auch nicht strikt an bestimmte Tageszeiten gebunden. Immissionsschutzrechtlich genießt allein die Nachtzeit besonderen Schutz. Dieser Schutz endet aber um 6.00 Uhr (vgl. Nr. 6.4 TA Lärm). Von der in Ziff. 6.4 TA-Lärm vorgegebenen Möglichkeit der Verschiebung dieser Zeiten hat die zuständige Behörde ersichtlich keinen Gebrauch gemacht. Schließlich ist auch die Dauer des Betläutens von zwei Minuten nicht zu beanstanden. Ein Verstoß gegen die drittschützenden Normen der §§ 3 Abs. 1, 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG ist somit nicht festzustellen. | Rn. 19 |
2. Auch die Grundrechte des Klägers lassen das Glockengeläut, dem er ausgesetzt ist, nicht als unzumutbar erscheinen. | Rn. 20 |
a. Der Kläger kann sich auf seine Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) berufen. Im Kern begehrt der Kläger – negatorisch – die Abwehr einer Lärmimmission. | Rn. 21 |
aa. Das Glockengeläut betrifft den Kläger jedenfalls in seiner negativen Religionsfreiheit. Zwar liegt weder ein unmittelbarer noch ein mittelbar-faktischer Grundrechtseingriff durch den Staat vor. In Ausübung der aus den Grundrechten folgenden staatlichen Schutzpflichten haben die staatlichen Gerichte die grundrechtlich geschützten individuellen Rechtsgüter aber auch insoweit zu berücksichtigen, als sie unbestimmte Rechtsbegriffe des einfachen Rechts auslegen und anwenden. | Rn. 22 |
bb. Soweit der Kläger die Zeit zwischen 6.00 Uhr und 8.00 Uhr zur Schriftlesung oder zur Meditation nutzen möchte, sich daran aber durch das Glockengeläut gehindert sieht, ist durch das Glockenläuten auch seine positive Religionsfreiheit betroffen. Insoweit fehlt es jedoch ebenfalls an einem staatlichen Grundrechtseingriff. Auch in dieser Perspektive kann sich der Kläger deshalb allein auf die Wirkung des Grundrechts als Grundlage einer staatlichen Schutzpflicht berufen. | Rn. 23 |
b. Der Kläger ist im Ergebnis aber weder in seiner negativen noch in seiner positiven Religionsfreiheit verletzt. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verpflichten den Staat nicht zum Einschreiten gegen das Glockengeläut der Beklagten. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, hat die Beklagte in Ausübung des Rechts der kirchlichen Selbstbestimmung (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) und ihrer – kollektiven – Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) gehandelt. In dieser Lage ist eine Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen und staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen geboten, bei der die staatlichen Gerichte nur zu prüfen haben, ob das grundrechtliche Untermaßverbot verletzt ist (grundlegend Isensee, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. IX, 2011, § 111 Rn. 165 f.). Die grundrechtlichen Wertungen konkretisieren dabei die immissionsschutzrechtliche Abwägung, die zur Feststellung des Merkmals „schädliche Umwelteinwirkung“ i.S.d. §§ 22 Abs. 1 Nr. 1 und 3 Abs. 1 BImSchG erforderlich ist. | Rn. 24 |
In der Kollision der Religionsfreiheit des Klägers mit der Religionsfreiheit und dem körperschaftlichen Selbstbestimmungsrecht der Beklagten liegt der schonende Ausgleich in der Beachtung der immissionsschutzrechtlichen Grenzwerte. Dem Kläger kann kein weiter gehender Anspruch auf eine Verschonung von den Glaubens- und Bekenntnisbekundungen der Klägerin zustehen. Ein derartiger Anspruch des Einzelnen würde der laizistischen Weltanschauung einen mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unvereinbaren Vorrang gegenüber anderen Weltanschauungen (hier: der praktizierten christlichen Liturgie) einräumen (vgl. Starck in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Band 1, 6. Aufl. 2010, Art. 4 Abs. 1, 2 Rdnr. 24; Mückl in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: August 2008, Art. 4 Rdnr. 90; Wenckstern in: Umbach/Clemens, Grundgesetz Mitarbeiterkommentar, Band I, 2002, Art. 4 Rdnr. 92 f.). Im Übrigen verbleibt dem Kläger schon angesichts der Kürze des Läutens der weitaus größte Teil der Zeit zwischen 6.00 Uhr und 8.00 Uhr zu ruhiger Schriftlesung und Meditation. | Rn. 25 |
c. Auch die Eigentumsfreiheit des Klägers (Art. 14 Abs. 1 GG) gebietet keine abweichende Würdigung. Der Kläger hat bereits nicht schlüssig dargetan, inwieweit das in seinem Eigentum stehende Wohnhaus durch das Geläut der Beklagten eine bezifferbare Wertminderung erfährt. Vielmehr sind der Wert des Grundstücks und des Gebäudes seit unvordenklichen Zeiten durch die Umgebungsbedingungen geprägt, zu denen das regelmäßige morgendliche Glockengeläut der Beklagten gehört. Das Eigentum des Klägers ist von Verfassungs wegen nur in dem Umfang geschützt, den die Vorschriften der §§ 3 Abs. 1, 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG begründen und begrenzen. Das Geläut bedarf daher keiner besonderen Rechtfertigung vor Art. 14 Abs. 2 GG. | Rn. 26 |
d. Soweit sich der Kläger zusätzlich auf die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) beruft, gehen seine Ausführungen dagegen fehl. Selbst wenn eine unmittelbar dem Staat zuzurechnende Maßnahme in Rede stünde, fehlte es an einem Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts. Art. 13 Abs. 1 GG schützt gegen ein ausforschendes oder die Privatsphäre anderweitig beeinträchtigendes Eindringen in den persönlichen Lebens- und Geheimbereich, den eine Wohnung i.S.d. Art. 13 Abs. 1 GG begründet (vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 13 Rn. 1 a.E.); das Grundrecht schirmt seinen Träger aber nicht gegen unspezifische Umwelteinwirkungen ab, denen die Wohnung in gleicher Weise ausgesetzt ist wie ihre nähere Umgebung (BVerfG, Beschl. v. 29.07.2009 - 1 BvR 1606/08 - NVwZ 2009, 1494, Rdnr. 34). Infolgedessen erfordert auch Art. 13 Abs. 1 GG keine Modifikation der allgemeinen immissionsschutzrechtlichen Vorgaben. | Rn. 27 |
e. Ebenso wenig kann sich der Kläger auf einen Gleichheitsverstoß berufen. Die Beklagte ist im Kernbereich ihres religiösen Wirkens schon nicht an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG oder eines der besonderen Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG gebunden. Zudem liegen keine strukturell vergleichbaren Fälle vor, aufgrund derer eine Ungleichbehandlung anzunehmen wäre. Es fehlt insoweit bereits an einem gemeinsamen Bezugspunkt. | Rn. 28 |
Ohnehin wäre die Beklagte als eigenständige juristische Person des öffentlichen Rechts gleichheitsrechtlich nicht an das Tun oder Unterlassen anderer Kirchengemeinden gebunden. Ob einzelne andere Kirchengemeinden mit dem Glockengeläut erst um 8.00 Uhr beginnen, ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens der Beklagten daher nicht maßgeblich. Es ist vielmehr Ausdruck der ihr zustehenden spezifischen Autonomie aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 GG, dass sie zu anderen Zeiten läutet als die örtliche römisch-katholische Kirchengemeinde oder andere Kirchengemeinden der württembergischen Landeskirche. | Rn. 29 |
Soweit der Kläger einen Gleichheitsverstoß in dem Umstand erblickt, dass die Beklagte ab 6.00 Uhr läuten darf, während er selber sich daran gehindert sieht, ab 6.00 Uhr seine Religionsfreiheit auszuüben, kommt ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) von vornherein nicht in Betracht. Die Beklagte behandelt den Kläger nicht anders als Dritte; sie behandelt auch vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich. Ein aktives Handeln der Beklagten steht einem - wenn auch bewussten - Unterlassen des Klägers nicht gleich. | Rn. 30 |
3. Insgesamt erweist sich das angegriffene Glockengeläut daher als rechtmäßig, so dass der vom Kläger geltend gemachte Unterlassungsanspruch nicht besteht. | Rn. 31 |