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Thomas Russell*: Das Atom-Moratorium – Dulden und Liquidieren?

ZVR-Online Dok. Nr. 29/2013 – online seit 26.03.2013

Nachdem nun der VGH Kassel[1] hinsichtlich der Kernkraftwerke Biblis A und B die, im Rahmen des sogenannten Moratoriums erfolgte, vorläufige behördliche Einstellung des Leistungsbetriebes der Reaktoren für rechtswidrig erklärte, drängt sich die Frage nach den Konsequenzen auf. So war der Presse zu entnehmen, dass zivilrechtlich eine Schadensersatzklage in Höhe von rund 185 Millionen Euro gegen das Land Hessen wegen den mit der Abschaltung seiner Atomkraftwerke verbundenen Einnahmeverlusten erhoben werden soll.[2]Rn. 1
Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend der Zusammenhang zwischen Primärrechtsschutz und Schadensersatzklage, Hauptsacheverfahren und einstweiligen Rechtsschutz im Rahmen des Moratoriums dargestellt und auch das Verhalten des Betreibers, der trotz aufschiebender Wirkung der Anfechtungsklage die Anlagen vom Netz nahm, erörtert. Einen Schwerpunkt bilden die Fragen der Kausalität, des Haftungsausschlusses und des Mitverschuldens des Betreibers (Stichwort: „Dulden und Liquidieren“).Rn. 2

I. Einleitung

Nach der Reaktorkatastrophe im März 2011 in Japan hatte die Bundesregierung ein sogenanntes Moratorium, nämlich die dreimonatige Abschaltung der „alten“ Kernkraftwerke beschlossen. Die Aussetzung der Laufzeitverlängerung sei "politisch" zu verstehen, nicht "rechtlich". Das beschlossene Atomgesetz mit der Verlängerung der Laufzeiten sei weiter in Kraft. Es werde aber bei den Laufzeiten für die Atomkraftwerke "faktisch" nicht angewandt.[3]Rn. 3
Zunächst war seitens der Bundesregierung die Absichtserklärung, eine dreimonatige Abschaltung von alten Atomkraftwerken vorzunehmen, zu vernehmen.[4] Umgesetzt wurde dies, dem Willen der Bundesregierung folgend, durch die Länder, denen die Atomaufsicht im Wesentlichen obliegt.[5]Rn. 4
Vorübergehend vom Netz gehen sollten die Kernkraftwerke Neckarwestheim 1, Philippsburg 1, Biblis A und B, Isar 1, Unterweser und das bereits stillstehende Kernkraftwerk Brunsbüttel. Auch das bereits zuvor stillstehende Kernkraftwerk Krümmel sollte abgeschaltet bleiben.[6] Tatsächlich wurden diese Kernkraftwerke nur wenige Tage später vorläufig vom Netz genommen.[7]Rn. 5
Soweit ersichtlich, erließen die jeweiligen Bundesländer jeweils entsprechende Verfügungen gegenüber den Kraftwerksbetreibern, woraufhin die Anlagen abgeschaltet wurden.[8]Rn. 6
So ordnete das hessische Umweltministerium am 18.03.2011 die vorübergehende Stilllegung der Kernkraftwerke Biblis A und B an, wobei Block B wegen einer Revision bereits heruntergefahren war.[9] Erstaunlicherweise wurde die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügungen nicht angeordnet.[10]Rn. 7

II. Rechtsmittel gegen die Stilllegung in der Hauptsache

Bis zum Ablauf der einmonatigen Klagefrist des § 74 VwGO ist die behördliche Verfügung weder bestandskräftig noch sofort vollziehbar gewesen, so dass der Betreiber auch ohne Klageerhebung die Anlage zunächst hätte weiter betreiben können. Der Vollzug durch die Behörde setzt nämlich gemäß § 6 VwVG voraus, dass der Verwaltungsakt unanfechtbar ist, der sofortige Vollzug angeordnet wurde oder Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung haben.Rn. 8
Spätestens bis zum Ablauf dieser Frist musste der Betreiber dann tätig werden, um den Eintritt der Bestandskraft der Verfügung zu verhindern. Grundsätzlich gilt gemäß §§ 68 ff. VwGO, dass Verwaltungsakte zunächst mittels Widerspruch und sodann mittels Anfechtungsklage angefochten werden können. Mangels einer abweichender Regelung i.S.d. § 80 Abs. 2 VwGO gilt auch bei einer auf § 19 Abs. 3 Atomgesetz gestützten Verfügung die Grundregelung des § 80 Abs. 1 VwGO wonach Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben.Rn. 9
Gemäß § 68 Abs. 1 Nr. 1 VwGO findet hier allerdings ein Widerspruchsverfahren nicht statt, da der Verwaltungsakt vom Hessischen Umweltministerium, einer obersten Landesbehörde, erlassen wurde. Deshalb war unmittelbar binnen eines Monats[11] nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes Anfechtungsklage zu erheben.Rn. 10
Zuständig ist gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 1 VwGO der Verwaltungsgerichtshof in Kassel (VGH) als Oberverwaltungsgericht. Bei diesem erhob der Betreiber von Biblis A und B jeweils Anfechtungsklagen gegen die befristeten Einstellungsverfügungen. Wie zu erwarten war, erledigten sich die Stilllegungsverfügungen, die auf drei Monate befristet waren, zwischenzeitlich durch Zeitablauf.Rn. 11
Dies wirkt sich prozessual aus. Hätte der Betreiber nach Ablauf der Befristung seinen Klageantrag unverändert aufrechterhalten, wäre die Klage abzuweisen gewesen, weil ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehlen würde.[12]Rn. 12
Der Betreiber hätte auch die Klage zurücknehmen können, wobei er dann die Kosten gemäß § 155 Abs. 2 VwGO zu tragen gehabt hätte.Rn. 13
Auch hätte der Betreiber gemäß § 161 Abs. 2 VwGO den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklären und eine für ihn günstige Kostenentscheidung beantragen können. Es ist davon auszugehen, dass sich die Behörde dieser Erledigungserklärung angeschlossen hätte und nur noch über die Kosten zu entscheiden gewesen wäre.Rn. 14
Hiervon sah der Betreiber aber ab und stellte seine Klagen in Fortsetzungsfeststellungsklagen gemäß § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO um.Rn. 15
Mit Urteilen vom 04.07.2012 entschied der VGH Kassel zunächst, dass die Fortsetzungsfeststellungsklagen zulässig sind.[13]Rn. 16
Anschließend musste der VGH darüber befinden, ob die Anordnungen rechtswidrig gewesen sind, was er in beiden Fällen bejahte.[14] Diese Entscheidung ist für einen möglichen Schadensersatzprozess bindend.[15] Allerdings kündigte die hessische Landesregierung bereits an, Rechtsmittel gegen die Entscheidung des VGH einlegen zu wollen.[16] Weil die Revision nicht zugelassen wurde, ist gegen die Nichtzulassung die Beschwerde gemäß § 133 VwGO statthaft.Rn. 17
Die Rechtswidrigkeit des Moratoriums wurde auch schon zuvor u.a. in einem Aufsatz von Ewer/Behnsen[17] dargestellt.Rn. 18

III. Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Stilllegung

Nur wenn binnen der dreimonatigen Frist nachträglich die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung angeordnet worden wäre, hätte die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung mehr gehabt, so dass effektiver Rechtsschutz lediglich durch einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu erlangen gewesen wäre.[18]Rn. 19

IV. Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche

Insbesondere da der Betreiber von Biblis die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage nicht ausnutzte und schließlich eine Umstellung zur Fortsetzungsfeststellungsklage vornahm, liegt auf der Hand, dass die Anfechtungsklage vor allem erhoben wurde, um sich Schadensersatzansprüche zu bewahren und um sich ggfs. eine bessere Position bei der in diesem Zeitpunkt noch ausstehenden Neuregelung der Reststrommengen durch Gesetz zu sichern.Rn. 20
Das Verhalten erinnert insofern an ein „Dulden und Liquidieren“, also ein Geltendmachen von Ansprüchen, ohne sich zuvor gegen das hoheitliche Handeln verwaltungsrechtlich - mit allen Mitteln - zur Wehr gesetzt zu haben, welches allerdings seit der Nassauskiesungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts[19] in der Regel nicht möglich ist.Rn. 21
Deshalb stellt sich die Frage, ob in hiesiger Konstellation Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche bestehen.Rn. 22

1. Amtshaftung

Ein möglicher Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG wäre gemäß Art. 34 S. 3 GG und § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG auf dem Zivilrechtsweg beim Landgericht geltend zu machen. Passivlegitimiert ist grundsätzlich die Anstellungskörperschaft[20], im Falle von Biblis also das Land Hessen.Rn. 23
a) Handeln eines Amtsträgers in Ausübung eines öffentlichen Amtes und Verletzung einer Amtspflicht
Zunächst müsste ein Amtsträger gehandelt haben, was vorliegend gegeben ist. Ob es sich dabei um einen Angestellten oder einen Beamten im statusrechtlichen Sinne handelt ist unerheblich. Steht das Handeln einer Behörde fest, bedarf es nicht einmal der Feststellung der verantwortlichen Einzelpersonen.[21]Rn. 24
Weiterhin müsste dieser in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt haben. Das heißt, die schädigende Handlung muss der hoheitlichen Tätigkeit zuzuordnen sein[22], was mit der vorliegenden Stilllegungsverfügung eindeutig zu bejahen ist.Rn. 25
Schließlich muss eine Amtspflicht verletzt worden sein. Zu den Amtspflichten gehört insbesondere die Pflicht zu recht- und gesetzmäßigem Handeln und zur fehlerfreien Gesetzesauslegung und Ermessensausübung.[23] Wie oben[24] festgestellt wurde, war die behördliche Verfügung rechtswidrig, sodass von einer Amtspflichtverletzung auszugehen sein dürfte.Rn. 26
Diese Amtspflicht müsste drittbezogen sein. Dies ist dann der Fall, wenn sie dem Amtsträger wenigstens auch im Interesse des Einzelnen und nicht allein im Interesse der Allgemeinheit und des Staates auferlegt ist.[25]Rn. 27
Dritter ist jeder dessen Interessen die Amtspflicht dient und in dessen Rechtskreis eingegriffen wird. Liegt die Amtspflichtverletzung im Erlass eines rechtswidrigen, belastenden Verwaltungsakts, deckt sich die Drittgerichtetheit mit der Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO.[26]Rn. 28
Wird zum Beispiel eine bestandkräftig erteilte Baugenehmigung rechtswidrig aufgehoben, so wird eine gegenüber dem Bauherrn drittschützende Amtspflicht verletzt.[27] Insbesondere weil der Betreiber Adressat eines belastenden Verwaltungsaktes und gemäß § 42 Abs. 2 VwGO auch diesbezüglich klagebefugt ist, besteht kein Zweifel daran, dass er auch zum geschützten Personenkreis zählt.Rn. 29
b) Schuldhaftigkeit
Weiterhin muss der Amtsträger vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt haben, wobei es auf die für die Führung des Amtes im Durchschnitt erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten ankommt.[28] Ein besonders strenger Maßstab gilt für oberste Landesbehörden im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren.[29]Rn. 30
Auch aufgrund der unmittelbar nach Verlautbarung des Moratoriums, noch vor Erlass der Stilllegungsverfügung, den Medien zu entnehmenden Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit[30] und aufgrund des Wortlauts des § 19 Abs. 3 Atomgesetzes dürfte aufgrund der hohen Anforderungen zumindest ein fahrlässiges Handeln kaum in Abrede gestellt werden.Rn. 31
c) Schaden
Der Betreiber wäre so zu stellen, als hätte sich der Amtsträger pflichtgemäß verhalten.[31] Grundsätzlich sind sämtliche Nachteile auszugleichen, die bei pflichtgemäßem Handeln der Behörde vermieden worden wären.[32]Rn. 32
Der Anspruch aus Amtspflichtverletzung richtet sich - anders als in §§ 249 ff. BGB vorgesehen - in der Regel nicht auf Naturalrestitution sondern auf Geldersatz, da die ordentlichen Gerichte andernfalls in die Zuständigkeit der der Verwaltungsgerichte eingreifen würden, sollten sie den Verwaltungsakt aufheben.[33] Zum Schaden zählen insbesondere auch Kosten die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung aufgewendet wurden.[34]Rn. 33
Ebenfalls zum Schaden zählt damit der durch die Amtspflichtverletzung entgangene Gewinn. Dies dürfte vorliegend die Hauptposition sein, denn so war bereits unmittelbar nach der Verkündung des Moratoriums zu vernehmen, dass sich mit jedem abgeschriebenen Kernkraftwerk etwa eine Million €pro Tag verdienen lassen soll.[35] Auch mit jedem Tag des Stillstands von Biblis A sollen dem Betreiber rund eine Million Euro an Gewinn entgehen.[36] Nun ist von einem Schaden i.H.v. 185 Millionen € die Rede.[37]Rn. 34
Unabhängig davon, ob diese Zahlen zutreffen, ist jedenfalls ersichtlich, dass es bei einen Stillstand für die Dauer von drei Monaten um einen sehr hohen Schaden geht, der jedoch nur zu erstatten ist, wenn auch die weiteren Voraussetzungen vorliegen.Rn. 35
Weiterhin ist aus den Urteilen des VGH vom 04.07.2012[38] zu entnehmen, dass bereits eine konkrete Schadensverursachung durch die Anordnungen des Umweltministeriums zwischen den Parteien streitig ist, weil u.a. Block B im Zeitpunkt der Anordnungserteilung wegen Revisionsarbeiten abgeschaltet war und Block A wegen anstehender Revisionsarbeiten im Juni 2011 heruntergefahren werden sollte und von den Verfahrensbeteiligten unterschiedliche Angaben dazu gemacht werden, wann ein Wiederanfahren von Biblis Block B technisch möglich und auch beabsichtigt war.Rn. 36
Insofern dürfte bereits die Feststellung eines Schadens problematisch sein. Denn für den Zeitraum, in dem ein Kernkraftwerk sowieso wegen anstehender Revisionsarbeiten heruntergefahren wird bzw. werden soll, ist nicht ersichtlich, wie eine behördliche Anordnung ein (weiteren) Schaden verursacht haben soll. Welchen Zeitraum dies im Einzelnen betrifft, wäre im Rahmen einer Schadensermittlung zu ermitteln.Rn. 37
d) Kausalität
Weiterhin müsste allerdings die Amtspflichtverletzung für den noch genau zu ermittelnden Schaden adäquat Kausal gewesen sein.Rn. 38
Ein adäquater Zusammenhang besteht, wenn eine Tatsache im Allgemeinen und nicht nur unter ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung eines Erfolges geeignet war. Der adäquate Ursachenzusammenhang kann fehlen, wenn der Geschädigte selbst oder ein Dritter in völlig ungewöhnlicher und unsachgemäßer Weise in den Geschehensablauf eingegriffen und eine weitere Ursache gesetzt hat, die den Schaden erst endgültig verursacht hat.[39]Rn. 39
Hier ist zu differenzieren. Sofern ein Betreiber in vorauseilendem Gehorsam, möglicherweise um einen Konflikt mit der - bis dato eher kernkraftfreundlichen - Bundesregierung im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt bevorstehenden Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen oder aus sonstigen Gründen zu vermeiden, die Anlagen schon vor Erhalt einer aufsichtsrechtlichen Verfügung vom Netz genommen haben, so wäre eine Kausalität zwischen der Amtshandlung, welche allenfalls zu diesem Zeitpunkt angekündigt war, und dem eingetretenen Schaden problematisch.Rn. 40
Eine andere Beurteilung ergibt sich, soweit Anlagen, wie im Falle von Biblis, erst nach Erlass der Verfügung heruntergefahren wurden. In diesem Fall wird man davon ausgehen können, dass ohne die konkrete Stilllegungsverfügung die Anlage kaum heruntergefahren worden wäre, so dass die Kausalität zu bejahen ist.Rn. 41
Allerdings ist hier zu beachten, dass die Verfügung nicht sofort vollziehbar war. Bis zum Eintritt der Bestandskraft oder der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Verfügung, ist der Betreiber rechtlich nicht daran gehindert gewesen, die Anlage weiter zu betreiben.Rn. 42
Von dem Betreiber von Biblis A und B war zu hören, das man dem Wunsch der Bundesregierung, alte Reaktoren zunächst abzuschalten, nachkomme und auf eine entsprechende Weisung der hessischen Atomaufsicht warte.[40]Rn. 43
Die Frage ist nun, ob das Verhalten des Anlagenbetreibers, der der Verfügung unmittelbar nachkam, wenngleich diese nicht sofort vollziehbar war, einer Kausalität entgegensteht.Rn. 44
Handlungen des Betroffenen und der daraus folgende Schaden sollen nicht durch den pflichtwidrigen Akt eines Beamten verursacht seien, wenn der Betroffene den Akt für rechtswidrig hielt und ihm ein Rechtsmittel dagegen zumutbar war.[41]Rn. 45
Zu beachten ist, dass das Hessische Umweltministerium wohl geäußert haben soll, dass falls der Betreiber den Reaktor Biblis A wieder hochfahren sollte, man die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung anordnen werde.[42] Der Betreiber soll zunächst geäußert haben, dass eine Wiederinbetriebnahme während des Gerichtsverfahrens nicht geplant sei, wobei diese Äußerung wohl wieder zurückgezogen und geäußert worden sein soll, dass sich die Frage des Wideranfahrens dann nicht stelle, wenn die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung angeordnet würde.[43]Rn. 46
Berücksichtigt man, dass der Betreiber zumindest in der Hauptsache Rechtsmittel eingelegt hat und seitens der Aufsichtsbehörde möglicherweise bereits die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Verfügung für den Fall, dass der Reaktor wieder hochgefahren werden sollte, in Aussicht gestellt wurde, so wird im Ergebnis durchaus von einer adäquaten Kausalität auszugehen sein. Denn dass der Betreiber damit in ungewöhnlicher oder unsachgemäßer Weise in den Geschehensablauf eingegriffen und eine weitere Ursache gesetzt hat, die den Schaden erst endgültig verursacht, kann bei diesem Verhalten nicht angenommen werden. Vielmehr ist es durchaus der Amtshandlung zuzurechnen, wenn dieser, trotz mangelnder sofortiger Vollziehbarkeit, nachgekommen wird.Rn. 47
e) Haftungsausschlüsse
Ein Haftungsausschluss gemäß § 839 Abs. 1 S. 2 BGB ist offensichtlich nicht gegeben. Anhaltspunkte für eine anderweitige Ersatzpflicht sind nicht ersichtlich.Rn. 48
Gemäß § 839 Abs. 3 BGB tritt die Schadensersatzpflicht jedoch nicht ein, wenn der Verletzte es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Rechtsmittel in diesem Sinne sind weit zu verstehen, insbesondere ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 VwGO wird hierzu gezählt.[44] Ein Wahlrecht zwischen Primärrechtsschutz und Schadensersatz aus Amtshaftung besteht nicht.[45]Rn. 49
Wenn die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung angeordnet wird, dann ist der Betreiber gezwungen, einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen, da andernfalls der Ausschluss des § 839 Abs. 3 BGB greifen würde.Rn. 50
Hierzu kam es im Falle von Biblis nicht, weil der Betreiber der Verfügung, wenngleich sie nicht sofortvollziehbar war, nachkam.Rn. 51
Solange die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung nicht angeordnet worden ist, konnte der Betreiber, abgesehen von der bereits erhobenen Anfechtungsklage, kein weiteres Rechtsmittel einlegen. Dies brauchte er auch nicht, denn solange der Verwaltungsakt noch nicht rechtskräftig ist, ist er nicht vollziehbar. Darüber hinaus wird die Vollziehbarkeit aufgrund der Anfechtungsklage weiter gehemmt, so dass die Reaktoren weiter betrieben werden durften, weil seitens der Aufsichtsbehörde die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung nicht nachträglich angeordnet wurde.Rn. 52
Da und solange nicht die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügung angeordnet wurde, wäre der Haftungsausschluss des § 839 Abs. 3 BGB nur einschlägig, wenn man das Ausnutzen der aufschiebenden Wirkung durch faktisches Weiterbetreiben des Reaktors als „Rechtsmittel“ verstünde.Rn. 53
Im Falle einer Baueinstellungsverfügung im Bauordnungsrecht soll das Ausnutzen der aufschiebenden Wirkung durch faktisches Weiterbauen nicht als Rechtsmittel i.S.d. § 839 Abs. 3 BGB zu verstehen sein.[46] Dies könnte hier entsprechend gelten. Allerdings gibt es einen erheblichen Unterschied zur hiesigen Konstellation. Denn anders als beim Weiterbauen drohen dem Betreiber hier keine hohen, unnützen Aufwendungen, für den Fall, dass sich die behördliche Verfügung als rechtmäßig erweist. Durch das Weiterbetreiben des Reaktors entstehen Gewinne und keine, möglicherweise später unnütze, Aufwendungen.Rn. 54
Dennoch erscheint es auch hier dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Norm zu entsprechen, wenn man das faktische Ausnutzen der aufschiebenden Wirkung nicht als Rechtsmittel im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB begreift sondern dies unter dem Aspekt der Schadensminderungsobliegenheit des § 254 Abs. 2 S. 1 BGB zu berücksichtigt.Rn. 55
Denn während § 254 BGB die Berücksichtigung der Einzelfallumstände gestattet und die Möglichkeit der Schadensteilung vorsieht, führt die Regelung des § 839 Abs. 3 BGB bei jeder Form schuldhafter Rechtsmittelversäumung zum völligen Anspruchsverlust.[47] Dies würde dazu führen, dass der Adressat des belastenden, nicht sofort vollziehbaren, Verwaltungsaktes zu weiteren evtl. kostenintensiven Handlungen gezwungen ist und gerade hierdurch der mögliche Schaden größer wird. Dass man aber je nach den tatsächlichen Kosten des faktischen Ausnutzens der aufschiebenden Wirkung differenziert, ob dies ein Rechtsmittel i.S.d. § 839 Abs. 3 BGB darstellt oder nicht, ist nicht einleuchtend und würde eine große Rechtsunsicherheit bei dem Adressaten einer solchen, vermeintlich rechtswidrigen, Verfügung auslösen. Auch dürfte es gerade nicht dem Interesse der Behörde entsprechen, wenn der Betroffene die aufschiebende Wirkung ausnutzten muss, um einen möglichen Amtshaftungsanspruch nicht zu gefährden.Rn. 56
Damit liegt in der hiesigen Konstellation ein Unterlassen der Einlegung eines Rechtsmittels nicht vor, so dass es auf die Frage der Schuldhaftigkeit und des Kausalzusammenhangs zwischen Nichteinlegung des „Rechtsmittels“ und dem Schaden nicht ankommt.Rn. 57
Schadensersatzansprüche von Betreibern, welche keine Anfechtungsklage gegen die Stilllegungsverfügung erhoben haben oder welche sich nicht gegen einen ggfs. angeordneten Sofortvollzug zur wehr gesetzt haben, dürften hingegen am Haftungsausschluss des § 839 Abs. 3 BGB scheitern.Rn. 58
f) Mitverschulden
Fraglich ist, ob der Umfang eines möglichen Schadensersatzanspruchs gemäß § 254 Abs. 2 S. 1 BGB zu mindern wäre. Trifft den Geschädigten ein Mitverschulden bei der Schadensabwendung bzw. -minderung, so hängt der Umfang der Ersatzpflicht von einer Würdigung und Abwägung ab, wobei in erster Linie auf das Maß beiderseitiger Verursachung und in zweiter Linie das Maß beiderseitigem Verschulden abzuwägen ist.[48] Die Abwägung kann zu einer Schadensteilung, zum Wegfall der Ersatzpflicht oder auch zu einer vollen Haftung des Schädigers führen.[49]Rn. 59
Was den Verursachungs- und Verschuldensanteil der Aufsichtsbehörde anbelangt, so ist zu berücksichtigen, dass diese die Stilllegung auf eine Eingriffsnorm gestützt hat, wenngleich das Vorliegen der Voraussetzungen schon nach dem Wortlaut der Norm fraglich erschien und hierauf auch in der öffentlichen Diskussion hingewiesen wurde.[50]Rn. 60
Aus der Pressemitteilung des VGH zu den Urteilen vom 27.02.2013, dessen schriftliche Gründe bei Fertigstellung des Aufsatzes noch nicht vorlagen, geht hervor, dass das Gericht die Anordnungen für formell und materiell rechtswidrig hielt. So sei keine ordnungsgemäße Anhörung erfolgt und das Ermessen sei nicht pflichtgemäß ausgeübt worden.[51]Rn. 61
Zwar ist nachzuvollziehen, dass die Aufsichtsbehörde in Anbetracht der Ereignisse in Japan und der verheerenden Auswirkungen eines auch in der Bundesrepublik nicht gänzlich auszuschließenden Reaktorunglücks zunächst eine erneute Prüfung und Bewertung vornehmen wollte.Rn. 62
Der Betreiber hat aber seinerseits zum Erlass der (rechtswidrigen) Stilllegungsverfügung nichts beigetragen. Dass der Betrieb eines Reaktors per se eine gewisse Gefahr birgt, kann nicht herangezogen werden, da hierfür eine Genehmigung vorliegt.Rn. 63
Allerdings hätte der Betreiber den Schaden einfach und risikolos vollständig abwenden können, indem er den Betrieb fortgesetzt hätte, was mangels der Sofortvollziehbarkeit rechtmäßig gewesen wäre. Hierdurch wäre es weder zu einem entgangenen Gewinn noch zu Zinsverlusten gekommen.Rn. 64
Diesbezüglich stellte der VGH in seiner Entscheidung vom 04.07.2012 zwar fest, dass ein Amtshaftungsanspruch nicht ausgeschlossen sei, weil im hiesigen Verfahren nicht eindeutig und sicher festgestellt werden könne, dass die Betreiberin ohne jede Beanstandung oder Beeinflussung der zuständigen Aufsichtsbehörde nach Erhebung der Klage Block A wieder in den Leistungsbetrieb hätte führen können, so dass sie freiwillig die Möglichkeit der Gewinnerzielungsabsicht aufgegeben habe. Die Betreiberin habe Unterlagen vorgelegt, die darauf hindeuten könnten, dass es nicht sinnvoll gewesen sei, die technisch komplexe Wiederaufnahme des Leistungsbetriebes wegen der dann bevorstehenden Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit zu betreiben.[52]Rn. 65
Jedoch war dem Betreiber offensichtlich bewusst, dass eine Entscheidung über die Klage nicht binnen zwei bzw. drei Monaten zu erwarten war, sodass ein Nichtausnutzen der aufschiebenden Wirkung zu einem, im Vergleich zu den möglichen Mehrkosten des kurzfristigen Hoch- und Runterfahrens, ganz erheblichen Schaden führen wird. Auch vermag das Argument, der Betreiber habe mit einer nachträglichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit im Falle des Nichtbefolgens der - noch nicht vollziehbaren - Verfügung zu rechnen gehabt, nicht überzeugen. Denn wäre dies erfolgt, hätte der Betreiber einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO stellen können und auch müssen, um einen Haftungsausschluss gemäß § 839 Abs. 3 BGB zu vermeiden.[53] Gerade weil der Betreiber offensichtlich von Anfang von der Rechtswidrigkeit der Anordnung ausging, ist nicht nachvollziehbar, weshalb ihm ein solches Verhalten unzumutbar sein sollte. So dürften die Kosten der Fortsetzung bzw. Wideraufnahme des Leistungsbetriebes im Verhältnis zu dem entgangenen Gewinn bei monatelangem Stillstand relativ gering sein. Im Übrigen ging der Betreiber offensichtlich von Anfang an von der Rechtswidrigkeit der Anordnungen aus, so dass er auch davon ausgehen durfte, dass sämtliche Kosten, die durch (rechtswidrige) behördliche Anordnung entstehen, als Schaden erfolgreich geltend gemacht werden können.Rn. 66
Möglicherweise hätte schon die Ankündigung, dass die aufschiebende Wirkung ausgenutzt werde, ausgereicht, um eine Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit durch die Behörde zu verursachen. Wenn über den dann einzulegenden Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO nicht vor Erledigung der Anordnung entschieden worden wäre, hätte der Leistungsbetrieb nicht aufgenommen werden können und ein Mitverschulden des Betreibers stünde nicht zur Debatte. Wäre dem Antrag stattgegeben worden, wäre es dem Betreiber durchaus zumutbar gewesen, den Leistungsbetrieb wieder aufzunehmen. Dass dies zu diesem Zeitpunkt sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den politischen Entscheidungsträgern zu Unmut geführt hätte, führt nicht zu einem anderen Ergebnis.Rn. 67
Die Frage ist, warum der Betreiber diesen offensichtlich erfolgversprechenden Weg nicht wählte. Hätte dies an mangelnder Rechtskenntnis gelegen oder hätten bei diesem Verhalten hohe Kosten oder Risiken gedroht, wäre das Mitverschulden des Betreibers wohl eher gering.Rn. 68
Ist sich der Betreiber aber über die Rechtslage bewusst und trifft er gleichwohl aus anderen Gründen die Entscheidung, der Verfügung Folge zu leisten, anstatt den Betrieb aufrechtzuerhalten, um einen Schaden zu vermeiden, ist sicherlich von einem erheblichen Mitverschulden auszugehen. Welche Kommunikation zwischen der Bundesregierung, der Landesregierung und dem Betreiber stattfand, ist nicht bekannt. Auch wenn seitens der politischen Entscheidungsträgern ein gewisser Druck auf den Betreiber ausgeübt worden sein sollte, so dürfte dies dessen mögliches Mitverschulden nicht entscheidend beeinflussen, weil ihm die Rechtslage offensichtlich bekannt war und auch tatsächlich die Möglichkeit der Schadensminderung - ggfs auch durch einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO - bestand.Rn. 69
So scheint es hier zu liegen. Denn es besteht kein Zweifel daran, dass sich der Betreiber über die Rechtslage, insbesondere die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage und der Erfolgsaussichten eines Antrages auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, im Klaren war. Da der Betreiber offensichtlich auch keine Sicherheitsrisiken durch den Weiterbetrieb des Reaktors sah und auch keine – im Vergleich zu einem monatelangem Stillstand- nennenswerten Kosten drohten, ist nicht ersichtlich, warum der Verfügung unmittelbar Folge geleistet wurde.Rn. 70
So wurde seitens des Betreibers sogar geäußert, dass man schon aus aktienrechtlichen Gründen zu einer Klage verpflichtet sei.[54] Insofern erscheint es inkonsequent, nicht aus denselben Gründen den Betrieb Aufrecht zu erhalten und ggfs. sodann einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu stellen. Sicherlich spielt dabei eine entscheidende Rolle, wie ein solches Verhalten von der Bundesregierung, dem Bundestag und nicht zuletzt der Bevölkerung aufgenommen worden wäre.Rn. 71
Dies gilt umso mehr, da zu diesem Zeitpunkt eine gesetzliche Neuregelung der Restlaufzeiten unmittelbar bevorstand. So war der Stand zu diesem Zeitpunkt, dass am 14.05.2011 die Reaktorsicherheitskommission ihren Abschlussbericht vorlegen und anschließend die Ethikkommission nochmals tagen sollte. Am 30.05.2011 sollte sie dann ihren abschließenden Bericht übergeben. Am 06.06.2011 wollte das Bundeskabinett auf Basis der Ergebnisse der beiden Kommissionen ein Beschlusspapier zur Energiewende vorlegen. Erwartet wurde, dass die Bundesregierung ein neues Atomgesetz auf den Weg bringt, das die Laufzeiten neu festlegt.[55]Rn. 72
Dass seinerzeit auch die Mehrheit der Bevölkerung das Atom-Moratorium begrüßte und für einen schnellen Ausstieg aus der Kernkraft votierte[56] lässt vermuten, dass sich der Betreiber durch den weiteren Betrieb des Reaktors den Unmut der Bevölkerung und auch der politischen Entscheidungsträger zugezogen hätte. Ähnlich wie sich die öffentliche Meinung offensichtlich bereits unmittelbar nach der Reaktorkatastrophe ausgewirkt hat, als es zu dem Atom-Moratorium kam, war zu erwarten, dass sich dies auch bei einer neuen gesetzlichen Regelung des Ausstiegs aus der Kernkraftnutzung auswirken würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber hierbei einen relativ großen Spielraum hat und dass insbesondere ein Vertrauen der Betreiber auf den Bestand der durch das Elfte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 08.12.2010[57] beschlossenen Verlängerung der Laufzeiten infolge der Diskontinuität der Politik ebenso wenig schutzwürdig wie das zuvor entstandene Vertrauen der Bevölkerung in den Bestand des ursprünglich beschlossenen Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernkraft durch das Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität vom 22.04.2002, [58] sein dürfte.Rn. 73
Die Betreiber hatten somit während des Moratoriums zum einen einen Imageschaden und zum anderen finanzielle Einbußen zu befürchten, wenn sie die Anlage wieder hochgefahren und ggfs. sodann einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gestellt hätten. Denn es war zu erwarten, dass die hierdurch entstehende Verärgerung auf Seiten der Politik und der Bevölkerung sich nicht positiv im Gesetzgebungsverfahren auswirken würde. Oder anders herum formuliert: Die Politik wird in einem solchen Fall sicherlich weniger geneigt sein, den Interessen der Betreiber hinsichtlich der möglichen Restlaufzeiten bzw. Reststrommengen und anderen Regelungen entgegen zu kommen.Rn. 74
Für diese These spricht insbesondere das Verhalten anderer Betreiber. So hat EON trotz der Zweifel über die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Landesbehörden von Bayern und Niedersachsen entschieden, keine Klage gegen die vorläufige Stilllegung zu erheben.[59]Rn. 75
EONs Vorstandsvorsitzender Teyssen soll geäußert haben, dass er das Moratorium juristisch für fragwürdig halte, aber von einer Klage aufgrund einer Abwägung zwischen dem finanziellen Schaden durch das Moratorium und dem Imageschaden bei einer Klage absehen wolle.[60]Rn. 76
Weiterhin spricht für diese These das Verhalten der Betreiber nach Ablauf des Moratoriums. Obwohl nach dem Dreizehnten Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31.07.2011[61] § 7 Atomgesetz dahin geändert wurde, dass die „alten“ Kraftwerke mit Ablauf des 06.08.2011 die Berechtigung zum Leistungsbetrieb verloren, fuhren die Betreiber die Anlagen auch nach Ablauf des Moratoriums nicht wieder hoch. So soll EnBW geäußert haben, mit seinem Verzicht auf den "langfristigen Erhalt von Kundenbeziehungen und der Akzeptanz in der Gesellschaft und bei politischen Entscheidungsträgern" Rücksicht zu nehmen, RWE soll angekündigt haben, das Atomkraftwerk Biblis nicht wieder anzufahren um auch dem Wunsch der Politik Rechnung zu tragen, die während des Moratoriums abgeschalteten Anlagen nicht mehr zur regulären Stromerzeugung einzusetzen. Bereits zuvor soll EON auf eine Wiederinbetriebnahme der Meiler Unterweser und Isar 1 verzichtet haben.[62]Rn. 77
Es drängt sich deshalb auf, dass der Betreiber von Biblis ebenfalls aufgrund einer solchen Abwägung davon absah, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs auszunutzen. So verständlich diese Abwägung ist, so sind diese Erwägungen im Rahmen der Schadensminderungspflicht nicht zu berücksichtigen. Denn zu ersetzen wäre nur der kausal durch die Amtspflichtverletzung verursachte Schaden. Diesen hat der Verletzte, wenn möglich, abzuwenden oder zu mindern. Wenn er dies unterlässt, weil er sich wiederum durch dieses Unterlassen andere Vorteile erhofft, dann liegt ein Mitverschulden i.S.d. § 254 Abs. 2 BGB vor.Rn. 78
Auch ist die Wertung des § 839 Abs. 3 BGB im Rahmen des Mitverschuldens nicht aus dem Auge zu verlieren. Wenn schon im Falle der Anordnung des Sofortvollzuges das Unterlassen eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO einen Amtshaftungsanspruch ausschließt,[63] so ist das bewusste Nichtausnutzen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs in Kenntnis der Rechtslage ohne ersichtliches Kostenrisiko als deutliches Mitverschulden zu sehen.Rn. 79
Da der Schaden offensichtlich und einfach durch einen Weiterbetrieb des Reaktors bzw. in der Folge durch einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwenden gewesen wäre, ist von einem erheblichen Mitverschulden des Betreibers auszugehen, welches zu einem Wegfall der Ersatzpflicht bzw. zu einer ganz erheblichen Beschränkung der Ersatzpflicht führen dürfte. Ein „Dulden und Liquidieren“ ist mithin auch in dieser Konstellation nicht möglich.Rn. 80
Selbst wenn man das behördliche Handeln als vorsätzlich einstufen würde, so ist zu berücksichtigen, dass auf Seiten des Betreibers ebenfalls Vorsatz gegeben sein dürfte, so dass auch der Grundsatz, dass ein fahrlässiges Verhalten des Geschädigten hinter einem vorsätzlichen Verhalten des Amtsträgers in der Regel zurücktritt,[64] hier nicht greift.Rn. 81
Als weiteres Indiz dafür, dass der Betreiber Gewinnerzielungsmöglichkeiten aus taktischen Erwägungen zurückstellt, ist, dass bereits vor dem Moratorium die ursprünglichen Reststrommengen offensichtlich wegen der damals bevorstehenden Wahl und der erhofften Verlängerung der Restlaufzeiten nicht ausgeschöpft wurden. So soll seitens des Betreibers erklärt worden sein, dass der umstrittene Reaktor in Biblis so gefahren werden könne, dass „wir mit den Restlaufzeiten über die nächste Bundestagswahl kommen". Danach gäbe es vielleicht ein anderes Denken in Bevölkerung und Regierung.[65]Rn. 82

2. Andere Ansprüche

In der Entscheidung des VGH vom 04.07.2012[66] werden Ansprüche wegen eines enteignungsgleichen Eingriffs nicht von vornherein ausgeschlossen. Ein Anspruch aufgrund enteignungsgleichen Eingriffs dürfte jedoch bei einer vorübergehenden Stilllegung nicht bestehen. Denn hiervon wird nur das Erworbene und nicht das zu Erwerbende geschützt.[67] Aus diesem Rechtsinstitut kann allenfalls eine Pflicht zur Entschädigung, also ein Ausgleich für Substanzverlust und kein Schadensersatz, resultieren. Folgeschäden sind hingegen grundsätzlich nicht erstattungsfähig.[68]Rn. 83
Ein möglicher Schadensersatzanspruch aufgrund öffentlich-rechtlicher Forderungsverletzung kommt nicht nur bei öffentlich-rechtlichen Verträgen, sondern auch bei bestimmten anderen, vertragsähnlichen Schuldverhältnissen des Verwaltungsrechts in betracht. Hierzu zählen das Beamtenverhältnis, die öffentlich-rechtliche Verwahrung, und die Mehrzahl der öffentlich-rechtlichen (Anstalts-)Benutzungsverhältnisse sowie öffentlich-rechtliche Mitgliedschafts-verhältnisse.[69] Voraussetzung ist nach dem BGH das Bestehen eines „besonders engen Verhältnisses des einzelnen zum Staat oder zur Staatsverwaltung“, in dem das staatliche Handeln „Ausfluss seiner fürsorgerischen Tätigkeiten in Bezug auf den einzelnen“ ist.[70]Rn. 84
Ein solches vertragsähnliches Schuldverhältnis liegt zwischen der Atomaufsichtsbehörde und dem Betreiber nicht vor. Das Verhältnis wird vielmehr durch Verwaltungsakte bestimmt und ein enges Verhältnis oder gar eine fürsorgerische Tätigkeit der Behörde ist in diesem Verhältnis nicht gegeben. Ein Schadensersatzanspruch aufgrund öffentlich-rechtlicher Forderungsverletzung ist deshalb nicht ersichtlich.Rn. 85
Ein Folgenbeseitigungsanspruch setzt einen Eingriff in Freiheit und Eigentum des Betroffenen voraus. Die Beeinträchtigung bloß relativer Rechte durch die öffentliche Gewalt, also insbesondere die öffentlich-rechtliche Vertrags- oder sonstige Forderungsverletzung, vermögen einen Folgenbeseitigungsanspruch nicht zu begründen. Wenn zu Unrecht eine Erlaubnis oder eine sonstige Gewährung oder Leistung der öffentlichen Gewalt verweigert worden ist, ist aus dieser Anspruchs- oder Rechtsverletzung keine Folgenbeseitigungspflicht der öffentlichen Gewalt herzuleiten.[71]Rn. 86
Deshalb dürfte auch ein Folgenbeseitigungsanspruch vorliegend ausscheiden.Rn. 87
Unabhängig davon wäre das oben[72] dargestellte Mitverschulden auch im Rahmen anderer Anspruchsgrundlagen zu berücksichtigen.Rn. 88

V. Fazit

Die auf § 19 Abs. 3 Atomgesetz gestützte vorläufige Stilllegung des Reaktors Biblis A und B war rechtswidrig wie der VGH Kassel nun für die Zivilgerichte bindend feststellte.Rn. 89
Amtshaftungs- oder andere Ansprüche dürften hingegen scheitern oder allenfalls in geringer Höhe bestehen, denn es liegt ein erhebliches Mitverschulden des Betreibers vor, der mangels Vollziehbarkeit der Anordnung den Betrieb aufrecht erhalten und im Falle der Anordnung des Sofortvollzuges einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO hätte stellen können. Ein Dulden und Liquidieren ist nicht möglich.Rn. 90
Fußnoten

* Der Autor ist Richter am Amtsgericht Gelnhausen. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.

[1]Urteile vom 27.02.2013, Az. 6 C 824/11.T und 6 C 825/11.T, vgl. Pressemitteilung des VGH unter www.vgh-kassel.justiz.hessen.de/irj/VGH_Kassel_Internet.
[2]Eine haushaltspolitische Atombombe, Faz.net vom 28.12.2013, www.faz.net/aktuell/stillgelegte-kernkraftwerke-eine-haushaltspolitische-atombombe-12097753.html.
[3]So der Regierungssprecher Seibert in einem Onlinebericht bei n-tv am 16.03.2011, www.n-tv.de/politik/Moratorium-ist-verfassungswidrig-article2861756.html.
[4]Sieben Kernkraftwerke gehen vorerst vom Netz, FAZ.net vom 15.03.2011, www.faz.net/s/Rub469C43057F8C437CACC2DE9ED41B7950/Doc~E8A1B3C8DBC3E4CFCA749E2D9986E5B0B~ATpl~Ecommon~Sspezial.html.
[5]vgl. § 24 Atomgesetz; Art 87c GG.
[6]n-tv online vom 16.03.2011, www.n-tv.de/politik/Moratorium-ist-verfassungswidrig-article2861756.html.
[7]Atomkraftwerk Biblis vom Netz genommen, Zeit online vom 19.03.2011, www.zeit.de/politik/deutschland/2011-03/atomkraftwerk-biblis-moratorium.
[8]AKW-Betreiber halten sich Klageweg offen, www.tagesschau.de vom 28.03.2011, www.tagesschau.de/inland/atomdebatte138.html.
[9]Atomkraftwerk Biblis vom Netz genommen, Zeit online vom 19.03.2011, www.zeit.de/politik/deutschland/2011-03/atomkraftwerk-biblis-moratorium.
[10]Jahn, FAZ v. 02.04.2011, S. 2.
[11]vgl. § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO.
[12]vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. (2003), § 161 Rn. 7.
[13]Urteile vom 04.07.2012, Az. 6 C 824/11.T und 6 C 825/11.T, NVwZ 2012, S. 1350 ff.
[14]s.o. Fußn. 1.
[15]Kopp/Schenke (o. Fußn. 16), § 113 Rn. 12 u. 138.
[16]m.faz.net/aktuell/rhein-main/stillgelegtes-atomkraftwerk-hessen-wird-biblis-urteil-ueberpruefen-lassen-12106269.html.
[17]Ewer/Behnsen, NJW 2011, 1182 ff.
[18]Parallel könnte auch ein Antrag gemäß § 80 Abs. 4 VwGO bei der Behörde gestellt werden.
[19]BVerfG, NJW 1982, 745-753.
[20]Palandt/Sprau, 69. Aufl. (2010), § 839 Rn. 25.
[21]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 15-17 m.w.N.
[22]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 18.
[23]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 32-34 m.w.N.
[24]s.o. II.
[25]Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Auflage (2009), § 839 Rn. 229.
[26]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 45; Reinert, in: Beck´scher Online-Kommentar BGB, Bamberger/Roth, Stand 01.08.2010, § 839 Rn. 56.
[27]BGH, Urteil vom 22.01.2009 - III ZR 197/08, BeckRS 2009, 06486.
[28]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 52.
[29]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 52 m.w.N.
[30]So Papier im Onlinebericht auf n-tv online vom 16.03.2011, www.n-tv.de/politik/Moratorium-ist-verfassungswidrig-article2861756.html.
[31]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn 77.
[32]Schlick, Die Rechtssprechung des BGH zu öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen, Teil 2 Amtshaftung, NJW 2009, 3487/3491.
[33]BGH, NVwZ 2003, 1285 f.
[34]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 79.
[35]n-tv online vom 16.03.2011, www.n-tv.de/politik/Moratorium-ist-verfassungswidrig-article2861756.html.
[36]RWE droht mit Wiederanfahren von Biblis, FAZ.net vom 01.04.2011, www.faz.net/s/RubD16E1F55D21144C4AE3F9DDF52B6E1D9/Doc~EF5EC7B4A23B4494EA174F7F840DAC44E~ATpl~Ecommon~Scontent.html.
[37]S.o. Fußn. 2.
[38]S.o. Fußn. 13.
[39]BGH, NJW 1989, 99, 100.
[40]FAZ.net vom 16.03.2011, www.faz.net/s/Rub5785324EF29440359B02AF69CB1BB8CC/Doc~ED6FC681717D54A3DBB3536519A165EF2~ATpl~Ecommon~Scontent.html.
[41]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 77 m.w.N.
[42]FAZ v. 02.04.2011, S. 2.
[43]FAZ v. 02.04.2011, S. 2.
[44]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn 69; Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB (o. Fußn. 25), § 839 Rn. 331.
[45]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn 68 m.w.N.
[46]BGH, Urteil vom 05.07.2001 –III ZR 11/00, NVwZ 2002, 122 ff.
[47]Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB (o. Fußn. 25), § 839 Rn. 329.
[48]Palandt/Heinrichs (o. Fußn. 20), § 254 Rn. 58, 59.
[49]Palandt/Heinrichs (o. Fußn. 20), § 254 Rn. 64.
[50]s.o. Fußn. 30.
[51]so am 05.03.2013 zu lesen auf der Homepage des VGH, www.vgh-kassel.justiz.hessen.de/irj/VGH_Kassel_Internet.
[52]s.o. Fußn. 13.
[53]s.o. Fußn. 44.
[54]www.tagesschau.de vom 01.04.2011, www.tagesschau.de/wirtschaft/atomdebatte150.html.
[55]www.tagesschau.de vom 11.05.2011, www.tagesschau.de/inland/fahrplanatomausstieg100.html.
[56]spiegel-online vom 15.03.2011, www.spiegel.de/panorama/0,1518,750955,00.html.
[57]BGBl I, 1814.
[58]BGBl I, 1351.
[59]www.tagesschau.de vom 01.04.2011, http:// www.tagesschau.de/wirtschaft/atomdebatte150.html.
[60]Handelsblatt online vom 05.05.2011, "Ein Atomausstieg bis 2020 ist unrealistisch", www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ein-atomausstieg-bis-2020-ist-unrealistisch/4136126.html.
[61]BGBl I, 1704.
[62]de.reuters.com/article/domesticNews/idDEBEE75G0A020110617.
[63]s.o. IV.1.e).
[64]Palandt/Sprau (o. Fußn. 20), § 839 Rn. 81.
[65]www.abendblatt.de/politik/deutschland/article945731/Abschaltung-von-AKWs-verzoegert-sich.html.
[66]s.o. Fußn. 13.
[67]Reinert, in: Beck´scher Online-Kommentar BGB, Bamberger/Roth, Stand 01.08.2010, § 839 Rn. 109.
[68]BGH, NJW 1997, 3432, 3433; OLG Rostock, Urteil vom 13.04.2000 - 1 U 106/98, BeckRS 2010, 26359.
[69]Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB (o. Fußn. 25), § 839 Rn. 76 m.w.N.
[70]BGH, NJW 1956, 1399 f.
[71]Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB (o. Fußn. 25), § 839 Rn. 84.
[72]s.o. IV.1.