Robert Gmeiner: Rezension – Krull, Der „Hängebeschluss“ im System des vorläufigen Rechtsschutzes der Verwaltungsgerichtsordnung, 2016
ZVR-Online Dok. Nr. 2/2017 – online seit 19.02.2017
Krull, Sebastian
Der „Hängebeschluss“ im System des vorläufigen Rechtsschutzes der Verwaltungsgerichtsordnung
Verlag Dr. Kovac
Hamburg 2016
198 Seiten
88,90 Euro
ISBN 978-3-8300-9099-1
Effektiver Rechtsschutz kann erfordern, dass ein Gericht bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine vorläufige Regelung trifft, um einer Rechtsvereitelung entgegenzuwirken. Damit zwischen dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz und der Entscheidung hierüber keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden, kann das Verwaltungsgericht einen – gesetzlich nicht geregelten – „Hängebeschluss“ erlassen. Damit soll der Zustand bis zur Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz gesichert werden. In seiner 2016 vorgelegten und von der Universität Göttingen angenommenen Dissertation befasst sich Krull ausführlich mit diesem Beschluss. | Rn. 1 |
Zunächst untersucht er, ob überhaupt die Notwendigkeit besteht einen gesetzlich nicht geregelten Rechtsbehelf einzuführen. Dabei setzt er sich ausführlich mit der Frage auseinander zu welchem Zeitpunkt die aufschiebende Wirkung in den Fällen des § 80 Abs. 2 VwGO eintritt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz noch nicht zur aufschiebenden Wirkung führt. Entgegen der Kapitelüberschrift geht er aber eher auf die Frage ein, ob es eines Rechtsschutzes vor der Entscheidung über den vorläufigen Rechtsschutz bedarf. Anschließend sucht er in der VwGO und der ZPO nach einer möglichen Rechtsgrundlage für den Hängebeschluss. Nachdem er weder Vorschriften aus der VwGO (§§ 80, 80a, 123) noch aus der ZPO (§§ 570 Abs. 3, 938 ZPO) für anwendbar hält, sieht er die Rechtsgrundlage für Hängebeschlüsse in Art. 19 Abs. 4 GG. Dies sei aber im Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt problematisch. Der Gesetzgeber habe die Pflicht den Hängebeschluss gesetzlich zu regeln. Sodann untersucht Krull die Voraussetzungen für den Erlass des Hängebeschlusses. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der Hängebeschluss dann zu erlassen sei, wenn der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz weder offensichtlich aussichtslos noch rechtsmissbräuchlich sei und ein irreversibler Schaden für den Antragsteller drohe. Einer Interessenabwägung bedürfe es nur bei einer Drittbetroffenheit. Insoweit sei aber zunächst vom Aussetzungssetzungsinteresse auszugehen, welches dann durch ein Vollzugsinteresse aufgewogen werden könne. In den übrigen Fällen könnten nur zwingende Allgemeinwohlgründe ein Vollzugsinteresse begründen. Gegen die Entscheidung sei dann gem. § 146 Abs. 4 VwGO die Beschwerde zum OVG statthaft. | Rn. 2 |
Leider gelingt es Krull nicht, seine Argumentation ohne Wertungswidersprüche zu Ende zu führen. Zu Beginn der Arbeit stellt er fest: „Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gehört [...] nicht zu den suspendieren Rechtsbehelfen. Dies würde auch dem System des § 80 VwGO widersprechen, da § 80 Abs. 2 VwGO ja gerade deutlich macht, das ein besonderes öffentliches Interesse an der Vollziehung bzw. der Dringlichkeit des Vollzugs vorliegt und die aufschiebende Wirkung erst nach einer Überprüfung durch das Gericht wieder hergestellt bzw. angeordnet werden soll. Ein automatischer Suspensiveffekt im Sinne des § 80 Abs. 1 VwGO wäre daher systemwidrig und kann nicht angenommen werden.“ (S. 21). An dieser Auslegung des § 80 Abs. 2 VwGO hält er auch noch am Ende seiner Arbeit fest (S. 172). Seine Argumentation führt allerdings dazu, dass bereits dem Antrag auf vorläufigem Rechtsschutz faktisch eine aufschiebende Wirkung zukommt. Nach seiner Ansicht habe das VG die Pflicht, von Amts wegen einen Hängebeschluss zu erlassen, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen. Dabei komme es weder auf die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren an, noch sei eine Interessenabwägung geboten. Nur im Falle einer Drittbetroffenheit sei eine Abwägung durchzuführen, wobei zunächst von einem Aussetzungsinteresse auszugehen sei. Das Vollzugsinteresse könne daher nur ausnahmsweise überwiegen. Es komme allein auf die Gefahr der Irreversibilität der Maßnahme an. Ob ein irreversibler Schaden droht, habe das Gericht zu entscheiden. Die Deutungshoheit oder ein Beurteilungsspielraum stehe der Behörde nicht zu. Der Hängebeschluss hängt somit wie ein Damokles-Schwert über der Behörde. Faktisch führt dies dazu, dass sie den Verwaltungsakt nur vollziehen kann, wenn das Gericht ihr die Freigabe erteilt, indem es den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ablehnt. Die Behörde steht nach dieser Sichtweise vor einer Friss-oder-Stirb-Situation: Entweder sie erklärt gegenüber dem Gericht, dass sie bis zur Entscheidung in dem Verfahren über den vorläufigen Rechtschutz den Verwaltungsakt nicht vollziehen werde, was dazu führt dass die Behörde den Verwaltungsakt nicht vollziehen darf. Oder aber die Behörde leitet Vollzugsmaßnahmen ein. Dann aber kann das VG verpflichtet sein, einen Hängebeschluss zu erlassen, was ebenfalls dazu führt, dass die Behörde den Verwaltungsakt nicht vollziehen darf. Solange über den vorläufigen Rechtsschutz nicht entschieden ist, darf die Behörde formalrechtlich den Verwaltungsakt vollziehen. Je aufwendiger und kostspieliger je die Vollzugsmaßnahmen sind, desto eher wird die Behörde durch einen potenziellen Hängebeschluss abgeschreckt und zum stillhalten gezwungen. Dem besonderen öffentlichen Interesse der Vollziehung, wie es am Anfang der Arbeit postuliert wurde, wird mit dieser Auslegung nicht genügend Rechnung getragen. | Rn. 3 |
Die Problematik des Hängebeschlusses liegt vor allem darin, dass er gesetzlich nicht geregelt ist. Ein besonders großes Gewicht kommt deshalb der Frage zu, ob von Verfassungs wegen eine gesetzliche Regelung erforderlich ist. Dem geht Krull aber nur oberflächlich nach. Eine Normierungspflicht folgert er u.a. aus der Plenumsentscheidung des BVerfG bezüglich der Gehörsrüge (Beschluss vom 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395), wonach Rechtsbehelfe stets einer gesetzlichen Regelung bedürfen. Hinsichtlich des Hängebeschlusses fordert das BVerfG zwar, dass das Verwaltungsgericht u.U. einen Hängebeschluss erlassen muss wenn ein irreversibler Schaden droht (BVerfG, Beschluss vom 11.10.2013 – 1 BvR 2616/13, NVwZ 2014, 363). Eine gesetzliche Regelung fordert es in dem Beschluss allerdings nicht. Es sieht die Verwaltungsgerichte auch ohne eine gesetzliche Regelung in der Pflicht. In diesem Zusammenhang hätte erörtert werden müssen, ob das BVerfG den Gesetzesvorbehalt einfach nur übersehen hat oder ob es hinsichtlich des Hängebeschlusses eine gesetzliche Regelung tatsächlich für entbehrlich hält. Verlangt das Grundgesetz eine gesetzliche Regelung, weist das Gericht regelmäßig darauf hin. Im Bereich des Rundfunkrechts beispielsweise betont das BVerfG seit dem ersten Rundfunk-Urteil (Urteil vom 28.2.1961 – 2 BvG 1/60 u.a., BVerfGE 12, 205) in beinahe jeder rundfunkrechtlichen Entscheidung, dass der Rundfunk einer gesetzlichen Regelung bedürfe und der Gesetzgeber eine positive Ordnung zu schaffen habe. Daher drängt sich die Frage auf, weshalb es bezüglich des Erfordernisses einer gesetzlichen Regelung des Hängebeschlusses in dieser Entscheidung schweigt. Hat es das Erfordernis einfach nur übersehen oder bedarf es tatsächlich keiner gesetzlichen Regelung? Allein der Rückgriff auf den Beschluss vom 30.4.2013 und der Wesentlichkeitstheorie erscheint daher zu dürftig. | Rn. 4 |
Auch wenn die Dissertation nicht in allen Punkten überzeugen kann und einzelne Fragen offen bleiben, schafft es Krull dennoch, eine umfassende Untersuchung des Hängebeschlusses vorzulegen. Das Werk bietet einen guten Überblick über das Wesen des Hängebeschlusses, seine Eigenart und alle relevanten Probleme, die mit ihm zusammenhängen. Nach der Lektüre hat der Leser eine solide Basis für eine weitergehende Auseinandersetzung mit diesem Rechtsbehelf. | Rn. 5 |