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AG Augsburg, Urt. v. 16.02.2017 - 31 Cs 101 Js 118374/16 jug (3) – „Garantenstellung eines Notrufbeamten“

ZVR-Online Dok. Nr. 8/2017 – online seit 26.05.2017

§ 13 StGB, § 340 StGB

Leitsatz der Redaktion

Ein polizeilicher Notrufbeamter hat gegenüber den Hilfesuchenden eine Garantenstellung als Beschützergarant für die öffentliche Sicherheit.Rn. 1

Gründe

I. (Persönliche Verhältnisse)

Der Angeklagte ist seit Polizeibeamter. Über Jahre war er bei der Verkehrspolizei; seit Jahren ist er in der Einsatzzentrale beschäftigt. Dort ist er wechselweise für den Notruf und die Funkdisposition zuständig.Rn. 2
Der Angeklagte hat ein Einkommen in der Besoldungsgruppe A10, was nach seinen Angaben inklusive Kindergeld und Nachtzuschlag 3400 Euro bedeutet. Er ist . Der Angeklagte hat noch .Rn. 3

II. (Festgestellter Sachverhalt)

Am 29.03.2016 kam es in zu einer streitigen Auseinandersetzung zwischen u.a. dem Geschädigten und einerseits und den anderweitig Verfolgten und andererseits. Um 15.38.20 Uhr wählte der Geschädigte den Notruf an und teilte dem Angeklagten als in Augsburg diensthabendem Polizeibeamten in einem 02.54 Minuten dauernden Gespräch mit, dass der Geschädigte im Rahmen der vorgenannten Auseinandersetzung verprügelt worden war. Der Geschädigte schilderte die Bedrohungssituation und bat ausdrücklich um Hilfe. Er machte auch deutlich, dass er nicht in der Lage sei sich durch Entfernen aus der Bedrohungssituation zu bringen. Der Angeklagte legte jedoch -entgegen der Dienstpflicht- keinen Einsatz an, so dass auch durch die Funkdisposition keine Streife zum Tatort entsandt werden konnte. Obwohl der Angeklagte von seinem Arbeitsplatz aus hätte erkennen können, dass mindestens eine Polizeistreife frei verfügbar war und in 10 Minuten zum Tatort hätte kommen können, behauptete er gegenüber dem Geschädigten bewusst wahrheitswidrig, dass eine Streife erst frühestens in 30 Minuten eintreffen würde. Tatsächlich hätte eine Polizeistreife der PI 6 in 10 Minuten am Tatort sein können; eine weitere Polizeistreife wäre ebenfalls verfügbar gewesen. Trotzdem gab der Angeklagte dem Geschädigten zu verstehen, dass die Auseinandersetzung zwischen den Jugendlichen „unter sich“ gelöst werden solle. Desgleichen verwies er ihn auf den ca. 30-minütigen Fußweg zur nächsten Polizeidienststelle.Rn. 4
Frühestens 10 Minuten nach Abschluss des Telefonats, wurde der Geschädigte von den anderweitig Verfolgten und attackiert, indem diese auf ihn einschlugen und traten, wodurch der Geschädigte zahlreiche Hämatome und Prellungen erlitt. Nachdem dem Angeklagten durch den Geschädigten sowohl die begangene Körperverletzung gegen den Geschädigten als auch die Bedrohungssituation gegen den Geschädigten geschildert worden war, hätte er dies - bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt - voraussehen können. Die Körperverletzung gegenüber dem Geschädigten hätte verhindert werden können, wenn der Angeklagte - wie es seiner Dienstpflicht entspricht - einen Einsatz angelegt und diesen an die Funkdispositon weitergeben hätte.Rn. 5

III. (Beweiswürdigung)

Die Angaben zu den persönlichen Verhältnissen stammen vom Angeklagten selbst.Rn. 6
Der Angeklagte räumte den objektiven Tatbestand ein. Allerdings habe er - so der Angeklagte - nicht vorsätzlich gehandelt. Er gab an, dass er zur Tatzeit sowie die Monate vorher bereits nervlich sehr angespannt gewesen sei. Es habe deshalb sowohl an diesem Tag als auch an weiteren Tagen - auch vor dem Vorfall - Beschwerden über ihn gegeben. Er sei wohl in einem psychischen Ausnahmezustand gewesen. Dieses Phänomen habe er bereits einmal in seiner Dienstzeit bei der Verkehrspolizei gehabt; deshalb habe er sich auch in den Innendienst versetzen lassen. Damals sei aufgefallen, dass er auch auf nichtige Anlässe ungewöhnlich stark reagiere. Hinzu kam, dass der Geschädigte ungewöhnlich ruhig von der Notlage berichtet habe. Er sei deshalb nicht von einem Notfall ausgegangen und habe auch innerlich „abgeschaltet“. Er habe - nachdem der Geschädigte gesagt hat, dass er dort nicht weggehen könne - überhaupt nicht mehr zugehört.Rn. 7
Mittlerweile sei mit dem Geschädigten eine Schmerzensgeldvereinbarung getroffen worden. Er habe sich vertraglich verpflichtet 500 Euro an den Geschädigten zu zahlen. Im Übrigen könne er sich die ganze Angelegenheit heute nicht mehr erklären. Er bedaure, dass der Geschädigte seinetwegen verprügelt worden sei. Nunmehr befindet er sich auch in regelmäßiger psychologischer Behandlung bei der Polizei.Rn. 8
Der uneidlich vernommene Zeuge gab an, dass es bereits mit den Tätern an Halloween eine Auseinandersetzung gegeben habe. Die Täter habe man dann zufällig an diesem Tag beim Skaterpark wieder getroffen. Sie hätten auf eine Aussprache hinsichtlich des damaligen Vorfalls gedrungen. Nachdem er zunächst versucht habe - wie von den Tätern gefordert - Freunde zu verständigen, habe er schließlich den Notruf gewählt. Ihm sei aufgrund der Bedrohungslage klar gewesen, dass er seinen Anruf bei der Polizei verheimlichen müsse. Der Angeklagte habe ihn dann aber nur abgewimmelt. Nach diesem Telefonat habe er nochmals versucht einen Freund zu informieren. Er habe sich dann noch ca. 10 Minuten mit seinem Handy beschäftigt. Danach sei er von den Täter attackiert worden. Er habe mehrere Wochen Schmerzen gehabt. Außerdem habe er auch Angstzustände. Wenn er an dem Ort vorbei geht, habe er immer noch ein flaues Gefühl. Das Vertrauen in die Polizei sei erschüttert.Rn. 9
Der im Sitzungssaal anwesende und mit Einverständnis aller Beteiligten uneidlich vernommene Zeuge erklärte, dass der Notrufbeamte von seinem Arbeitsplatz aus erkennen könne, ob eine Streife verfügbar sei. Die Notrufzentrale werde grundsätzlich mit zwei Notrufbeamten besetzt. Geht ein Notruf ein, legt der Notrufbeamte einen Einsatz an. Dieser Einsatz wird in der EDV erfasst und kommt dann zur Funkdisposition. Dieser entscheidet dann über den Einsatz und ob -bei der Dringlichkeit- Sonderrechte in Anspruch genommen werden. Die Bewertung der Priorität hat der Notrufbeamte.Rn. 10
Die uneidlich vernommene Zeugin , die die Ermittlungen leitete, gab an, dass sie den Notruf gesichert habe. Sie habe dann bei der Leiterin der PI Augsburg 6 recherchiert und dort die Auskunft erhalten, dass eine Streife zum Tatzeitpunkt maximal 5 bis 10 Minuten gebraucht hätte. Eine andere Streife sei ebenfalls sofort verfügbar gewesen. Insgesamt könne sie sich das Verhalten des Angeklagten überhaupt nicht erklären. Von Anfang März bis Anfang April seien insgesamt 3 Beschwerden über den Angeklagten eingegangen, wovon 2 Notrufe betroffen hätten.Rn. 11
Die CD mit dem Notruf wurde in der Hauptverhandlung abgespielt. Hieraus ergab sich die Übereinstimmung des Textes mit der Abschrift des Notrufes gem. Bl. 18/20 der Akte. Gleichfalls wurde die CD aus dem beigezogenen Verfahren 35 Ds 404 Js 121296/16, die die Körperverletzung gegenüber dem Geschädigten zum Teil dokumentiert, abgespielt. Hieraus ergibt sich, dass der Geschädigte von den Tätern massiv attackiert wurde.Rn. 12
Das Gericht geht aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme davon aus, dass der Angeklagte sich der vorsätzlichen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen schuldig gemacht hat.Rn. 13
Der Angeklagte ist als Polizist Amtsträger iSd. § 340 StGB.Rn. 14
Er hat als Notrufbeamter eine Garantenstellung (§ 13 StGB) gegenüber dem Geschädigten . Die Polizei hat für Recht und Ordnung zu sorgen und bei Straftaten einzuschreiten. Sie ist damit ein Beschützergarant für die öffentliche Sicherheit. Der Angeklagte hätte damit eine rechtliche Handlungspflicht gehabt, die sich darüber hinaus auch aus seinen Dienstvorschriften ergibt. Danach muss ein Einsatz angelegt werden, wenn der polizeiliche Aufgabenbereich tangiert ist. Dieser Pflicht ist er nicht nachgekommen.Rn. 15
Der Angeklagte hat nicht mit bewusster Fahrlässigkeit, sondern mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Nach der herrschenden Einwilligungstheorie ist von einem bedingten Vorsatz auszugehen, wenn der Täter den Erfolg als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und dabei billigend in Kauf nimmt (so Beck'scher Online Kommentar StGB, Heintschel-Heinegg, 32. Edition, § 15 StGB, Rdnr. 22). Aufgrund des Notrufs musste der Angeklagte von einer Notlage ausgehen. Ihm wurde ausdrücklich mitgeteilt, dass bereits eine Körperverletzung gegen den Geschädigten erfolgt ist; die Bedrohungssituation gegenüber dem Geschädigten wurde ebenfalls geschildert. Er hatte damit die sichere Erkenntnis, dass weitere Straftaten unmittelbar bevorstehen. Dieser Annahme steht auch nicht entgegen, dass der Geschädigte den Notruf im ruhigen Ton getätigt hat. Der Tonfall eines Mitteilers ist sicher ein Kriterium für die Einschätzung der Lage; allerdings kann dies nicht das einzige Kriterium sein. Menschen verhalten sich in Gefahrenlagen unterschiedlich. Ein ruhiger Tonfall kann auch aus anderen Motiven, wie z.B. im vorliegenden Fall, dass der Mitteiler verhindern möchte die Täter auf den Notruf aufmerksam zu machen, erfolgen. Dies musste dem Angeklagten - als erfahrenen Beamten - bewusst sein.Rn. 16
Außerdem hat der Angeklagte bewusst falsche Tatsachen zu dem Zeitrahmen des Eintreffens der Streife gegenüber dem Geschädigten angegeben. Ihm war aufgrund der technischen Möglichkeiten klar, dass sehr viel schneller eine Streife am Tatort sein konnte. Dies zeigt, dass er - unter allen Umständen - verhindern wollte, dass eine Streife ausrücken muss.Rn. 17
Das völlige „Abschalten“, auf das sich der Angeklagte beruft, ist seitens des Gerichts nicht nachvollziehbar. Immerhin hat der Angeklagte das Gespräch fortgesetzt und sinnhaft dem Geschädigten geantwortet. Er hat über einen Zeitraum von mehreren Minuten mit dem Geschädigten diskutiert und ihm verschiedene „Alternativen“ aufgezeigt. Von einem „Abschalten“ des Angeklagten kann hier nicht gesprochen werden.Rn. 18
Der Angeklagte hat sich dementsprechend der vorsätzlichen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen schuldig gemacht.Rn. 19

IV. (Strafzumessung)

Das Gesetz sieht für die Körperverletzung im Amt eine Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren vor (§ 340 Abs. 1 StGB). Diese Strafe kann nach § 13 Abs. 2 StGB gemildert werden, da die Tat durch Unterlassen begangen wurde.Rn. 20
Zu Gunsten des Angeklagten spricht sein Geständnis bezüglich des objektiven Tatbestandes und der Umstand, dass er mittlerweile sich bereit erklärt hat Schmerzensgeld gegenüber dem Geschädigten zu zahlen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass dem Angeklagten als Polizisten ein Strafverfahren und insbesondere auch das mediale Interesse daran besonders trifft.Rn. 21
Zu Lasten des Angeklagten muss berücksichtigt werden, dass hier beim Geschädigten ein erheblicher Schaden entstanden ist. Er leidet noch heute an den Folgen der Tat. Außerdem hat der Angeklagte als Polizeibeamter eine erhebliche Verantwortung, deren er nicht nachgekommen ist. Zusätzlich wird das Bild des helfenden Polizeibeamten durch den Angeklagten in der Öffentlichkeit belastet.Rn. 22
Unter Berücksichtigung dieser Umstände hielt es das Gericht für schuld- und tatangemessen eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen gegen den Angeklagten zu verhängen. Der Tagessatz wurde entsprechend den finanziellen Verhältnissen des Angeklagten auf 60 Euro angesetzt.Rn. 23

V. (Kosten)

Der Angeklagte hat als Verurteilter die Kosten des Verfahrens zu tragen.Rn. 24