Robert Gmeiner: Rezension – Broscheit, Rechtswirkungen von Genehmigungsfiktionen im Öffentlichen Recht, 2016
ZVR-Online Dok. Nr. 5/2017 – online seit 26.05.2017
Broscheit, Jannis
Rechtswirkungen von Genehmigungsfiktionen im Öffentlichen Recht
Duncker & Humblot
Berlin 2016
292 Seiten
69,90 Euro (Print) / 62,90 Euro (eBook)
ISBN: 978-3-428-14868-4 (Print) / 978-3-428-54868-2 (eBook)
Die Dissertation besteht in wesentlichem aus zwei Teilen. Im ersten Teil beschäftigt sie sich mit der Genehmigungsfiktion an sich. Dazu zählen die Begriffsbestimmung und -abgrenzung, die verfassungsrechtliche Zulässigkeit, die Vorgabe und Umsetzung der europarechtlich vorgeschriebenen Genehmigungsfiktion (Art. 13 Abs. 4 S. 1 der Dienstleistungsrichtlinie, RL 2006/123/EG) sowie die Voraussetzungen für den Eintritt der Genehmigungsfiktion. Der zweite Teil beginnt mit Ausführungen zur ausdrücklichen Genehmigung. Anschließend untersucht er die Rechtsnatur der Genehmigungsfiktion und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass es sich um eine der Verwaltung nicht zurechenbare Gesetzesfiktion handle. Die Rechtswirkungen seien – auch im Hinblick auf die Tatbestandswirkung, Legalisierungswirkung etc. – mit denen einer ausdrücklichen Genehmigung identisch. Nur trete anstelle der Bekanntgabe der Ablauf der Fiktionsfrist. Hinsichtlich der Fiktion der formellen Rechtmäßigkeit sei zu differenzieren. Die Fiktion erfasse grundsätzlich auch die Fiktion der ordnungsgemäßen Durchführung des Verwaltungsverfahrens. Nur wenn Grundrechte Dritter betroffen sind oder aus anderen zwingenden Gründen (z.B. das gemeindliche Einvernehmen nach § 36 BauGB bzw. verfassungs- oder europarechtliche Vorgaben) die Durchführung des Verwaltungsverfahrens unverzichtbar ist, sei eine Fiktion der formellen Rechtmäßigkeit ausgeschlossen. Das fehlerhafte Verfahren könne aber gem. §§ 45, 46 VwVfG geheilt werden. Eine Fiktion der materiellen Rechtmäßigkeit komme aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht. Eine Rechtmäßigkeitsfiktion zulasten von Drittbetroffenen scheitere an Art. 19 Abs. 4 GG. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) stünden einer materiellen Rechtmäßigkeitsfiktion gegenüber den Behörden entgegen. Die zuständige Behörde könne die rechtswidrige Genehmigungsfiktion gem. § 48 VwVfG zurücknehmen. Die Rücknehmbarkeit sei allerdings durch den Beschleunigungsgedanken der Fiktion und den europarechtlichen effet utile-Grundsatz beschränkt. Für § 49 VwVfG gelte grundsätzlich nichts anderes, nur der Widerrufsvorbehalt (§ 49 II Nr. 1 VwVfG) bedürfe einer besonderen Einzelprüfung, um der Beschleunigungsfunktion nicht zuwider zu laufen. Eine nach dem Fiktionseintritt der Genehmigungsfiktion widersprechende ausdrückliche Genehmigung könne nicht in Bestandskraft erwachsen. Es handle sich weder um eine konkludente Aufhebung der Genehmigungsfiktion noch um eine Umdeutung nach § 47 VwVfG. Eine belastende Genehmigungsfiktion könne von Dritten angefochten werden. Allerdings beginne die Rechtsmittelfrist erst mit der Zustellung einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung, welche mit der Fiktionsbescheinigung (§ 42a Abs. 3 VwVfG) zu verbinden sei. | Rn. 1 |
Auch wenn die Genehmigungsfiktion naturgemäß ein verwaltungsrechtliches Instrument ist, sind doch einige verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten. Der Crux der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Genehmigungsfiktionen – und Broscheit erkennt dies auch – liegt vor allem in der Gewaltenteilung, Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG. Obwohl der Autor laut dem Vorwort die Rechtsprechung auf den Stand von September 2015 gebracht haben will, geht er auf den am 11. August 2015 veröffentlichen Beschluss des BVerfG vom 30.6.2015 (2 BvR 1282/11, BVerfGE 139, 321) überhaupt nicht ein. Nicht einmal in einer Fußnote ist der Beschluss zu finden. Dabei hat sich das Gericht in diesem Beschluss ausführlich mit der Kompetenzabgrenzung zwischen der Legislative und der Administrative beschäftigt. Es ging um die Frage, inwieweit durch Gesetzgebung Verwaltungstätigkeiten ersetzet werden dürfen. In dem Beschluss heißt es: „Entscheidungen, die aufgrund eines schlicht subsumierenden Normenvollzugs ergehen, sind funktional typischerweise der Verwaltung vorbehalten […]. Das Parlament darf eine solche Verwaltungstätigkeit nur an sich ziehen, wenn hierfür im Einzelfall hinreichende sachliche Gründe bestehen“ (BVerfG, Beschl. v. 30.6.2015 – 2 BvR 1282/11, Rn. 127 [juris], BVerfGE 139, 321). Liegen keine sachlichen Gründe vor, darf die Legislative nicht an die Stelle der Exekutive treten. Ob dadurch in den Kernbereich der Verwaltung eingegriffen wird, kommt es demnach überhaupt nicht an (so aber: Broscheit, S. 28 f.). Gemessen an diesem Maßstab stellt sich daher die Frage, ob der Gesetzgeber die Genehmigungsfiktion einführen durfte. Gegen die Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit mit der Gewaltenteilung weist Broscheit (S. 30) lediglich darauf hin, dass die Behörde weiterhin über den Antrag entscheiden könne. Nach dem Ablauf der Fiktionsfrist ordne der Gesetzgeber lediglich eine Rechtsfolge an. Das erscheint mir zu kurz gegriffen. Der Verwaltungsakt ist nun einmal die klassische Handlungsform der Verwaltung. Wenn der Gesetzgeber für bestimmte Fallkonstellationen eine der Behörde nicht zurechenbare Maßnahme ergreift (S. 104) und sich dabei der Handlungsform des Verwaltungsaktes bedient, kann dies nicht in einem Satz beiseitegeschoben werden. Schließlich bleibt die Behörde nur so lange Herrin des Verfahrens, bis die Fiktionsfrist abläuft. Tritt die Fiktion ein, trifft im Ergebnis der Gesetzgeber eine Entscheidung, die eigentlich die zuständige Behörde zu treffen hätte. | Rn. 2 |
Unverständlich ist, weshalb Broscheit an mehreren Stellen Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG zu seiner Argumentation heranzieht. Es ist weitgehend anerkannt, dass Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG eng auszulegen ist. Die „öffentliche Gewalt“ in diesem Sinne ist ausschließlich die vollziehende Gewalt. Auf Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG kann demnach nicht zurückgegriffen werden, wenn es sich nicht um eine Maßnahme der Verwaltung handelt. Nun soll aber nach Broscheit (S. 104) eine Genehmigungsfiktion der Behörde nicht zugerechnet werden können. Dies soll selbst dann gelten, wenn die Behörde den Fiktionseintritt durch Untätigkeit bewusst herbeiführen will. Der Eintritt der Fiktion beruhe allein auf einer gesetzlichen Anordnung. Konsequenter Weise dürfte Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG daher auf die Genehmigungsfiktion nicht anwendbar sein. Die Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 4 GG kann auch nicht über die Fiktion erreicht werden, denn eine Fiktion bezieht sich allein auf die Rechtsfolge, nicht aber auf den Tatbestand (Broscheit, S. 20 ff., 103 f.). Damit ein Verwaltungsakt vorliegt, muss sie von einer Behörde (§ 1 Abs. 4 VwVfG) stammen (§ 35 S. 1 VwVfG). Die Urheberschaft der Behörde ist keine Rechtsfolge des Verwaltungsaktes, sondern eine Tatbestandsvoraussetzungen, welche aber nicht fingiert werden kann. Daher scheidet eine Fiktion der Zurechnung an die Verwaltung aus. Weshalb Broscheit dennoch meint Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auf fiktive Verwaltungsakte anwenden zu können, erläutert er an keiner Stelle. | Rn. 3 |
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Broscheit zwischen dem Bundes- und den Landesverwaltungsverfahrensgesetze in Bezug auf § 42a Abs. 1 S. 2 differenziert hätte. Auch die Landesverwaltungsverfahrensgesetze verweisen entweder ausdrücklich (z.B. § 42a Abs. 1 S. 2 VwVfG BW; § 111a Abs. 1 S. 2 VwVfG SH) oder durch Verweisung (z.B. § 1 Abs. 1 S. 1 VwVfG LSA) auf das Rechtsbehelfsverfahren gem. § 68 VwGO. Das Rechtsbehelfsverfahren ist allerdings nicht mehr Teil des Verwaltungsverfahrens, sondern des Verwaltungsprozesses und unterliegt somit der konkurrierenden Bundesgesetzgebung, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Der Bundesgesetzgeber hat den Verwaltungsprozess nach herrschender Meinung abschließend geregelt (BVerfGE 20, 238 [249]; BVerwGE 61, 360 [363]), sodass die Länderzuständigkeit ausgeschlossen ist, Art. 72 Abs. 1 GG. Der Landesgesetzgeber darf aufgrund der Sperrwirkung von Art. 72 Abs. 1 GG auch kein mit dem Bundesrecht inhaltsgleiches Landesrecht erlassen. Er darf nur insoweit tätig werden, als der Bundesgesetzgeber ihn zu eigenen Regelungen ermächtigt. Den Ländern steht nach § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO nur das Recht zu, das Vorverfahren abzuschaffen, aber nicht für andere Fälle einzuführen. Die Länder durften daher eine nach § 42a Abs. 1 S. 2 VwVfG entsprechende Regelung nicht treffen, soweit auf das Rechtsbehelfsverfahren verwiesen wird. Auch wenn man mit Broscheit davon ausgehen sollte, dass § 42a Abs. 1 S. 2 VwVfG bloß deklaratorischer und nicht konstitutiver Natur ist, kann auf die insoweit verfassungswidrigen Landesverwaltungsverfahrensgesetze nicht zurückgegriffen werden, was sich wiederum auf die systematische Argumentation auswirkt. Insbesondere geht damit die Argumentation fehl, durch den Verweis auf § 68 VwGO könne die Rechtsmäßigkeit der Genehmigungsfiktion nicht fingiert werden. | Rn. 4 |
Eines der zentralen Auslegungsmethoden des Europarechts ist der Grundsatz des effet utile (Art. 4 Abs. 3 EUV). Danach ist eine europarechtliche Norm so auszulegen, dass sie größtmögliche Wirksamkeit erlangt. Dies gilt selbstverständlich auch für Art. 13 Abs. 4 S. 1 der Dienstleistungsrichtlinie (RL 2006/123/EG - DLRL). Dies erkennt Broscheit auch bei der Frage nach der Rücknahmefähigkeit rechtswidriger Genehmigungsfiktionen (S. 211). Bei der Frage nach der Fiktionsmöglichkeit der Öffentlichkeitsbeteiligung im Verwaltungsfahren vertritt er allerdings die Auffassung, eine europarechtlich vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung könne nicht fingiert werden. Der Grundsatz des effet utile gebiete es, dass eine europarechtlich vorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung zwingend durchzuführen sei und daher nicht fingiert werden dürfe. Dass man auch in diesem Zusammenhang den effet utile-Grundsatz auf Art. 13 Abs. 4 S. 1 DLRL anwenden könnte, übersieht Broscheit, jedenfalls geht es hierauf nicht ein. So ist es m.E. nicht unvertretbar zu behaupten, die Erreichung der größtmögliche Wirksamkeit des Art. 13 Abs. 4 S. 1 DLRL verlangt, dass (im Einzelfall) die ordnungsgemäße Durchführung einer europarechtlich vorgeschriebenen Öffentlichkeitsbeteiligung entbehrlich sein und damit fingiert werden kann, evtl. sogar muss. Insoweit ist sein Ergebnis aus methodischer Sicht nicht nachvollziehbar. | Rn. 5 |
Negativ hervorzuheben ist noch der Umgang mit den Quellen. So zitiert Broscheit zwar Aufsätze von Broß (S. 39 Fn. 155) und Weidemann (S. 57 Fn. 260; S. 246 Fn. 868; S. 265 Fn. 2) sowie eine Monografie von Frisch (S. 99 Fn. 180) ohne die Werke allerdings in das Literaturverzeichnis aufzunehmen. Die Fundstelle eines Aufsatzes von Weißenberger zitiert er in den Fußnoten als DÖV 2012, 385 (S. 57 Fn. 261, 263), obwohl er ihn im Literaturverzeichnis als GewArch 2012, 385 ausweist. | Rn. 6 |
Zusammenfassend ist die von Prof. Dr. MichaelDroege betreute und von der Universität Mainz im Sommersemester 2015 angenommene Dissertation im Ergebnis ambivalent zu bewerten. Das Werk ist in sich schlüssig und nachvollziehbar, wenn man bestimmte Prämissen akzeptiert, die weder von Broscheit begründet werden noch zwingend sind. Auch wenn das Buch beinahe 300 Seiten umfasst, wäre doch noch die eine oder andere Vertiefung wünschenswert und angebracht gewesen. | Rn. 7 |