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Robert Gmeiner: Rezension – Buchheim, Actio, Anspruch, subjektives Recht, 2017

ZVR-Online Dok. 9/2017 – online seit 04.08.2017

Buchheim, Johannes
Actio, Anspruch, subjektives Recht. Eine aktionsrechtliche Rekonstruktion des Verwaltungsrechts
Verlag Mohr Siebeck
Tübingen 2017
XVII u. 285 Seiten
79,00 Euro
ISBN 978-3-16-154796-6

Nach der herkömmlichen Auffassung dient das Verwaltungsprozessrecht allein der Durchsetzung des materiellen Rechts. Sämtliche prozessualen Ansprüche seien daher ausschließlich Teil der materiellen Rechtsordnung. Der Aufhebungsanspruch eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes folge nicht aus § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, sondern aus dem materiellen Recht. So enthalte z.B. eine drittschützende Abstandsnorm aus dem Baurecht folgenden Anspruch: „Wenn eine Baugenehmigung erteilt wird, die zum Verstoß gegen eine drittschützende Abstandsnorm berechtigt, kann die von der Norm geschützte Bürgerin von der Baugenehmigungsbehörde die Aufhebung der Baugenehmigung verlangen.“ (S. 24). In der von RalfPoscher betreuten und 2016 von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommenen Dissertation versucht JohannesBuchheim diese von ihm „Anspruchsmodell“ genannte Auffassung zu widerlegen und plädiert stattdessen für die Eigenständigkeit des Verwaltungsprozessrechts gegenüber dem materiellen Verwaltungsrecht (von ihm „Aktionenmodell“ genannt). Für das obige Beispiel bedeutet dies, dass sich der Aufhebungsanspruch nicht mehr aus dem materiellen Recht ergebe, sondern aus § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.Rn. 1
Das Werk gliedert sich vor allem in zwei größere Abschnitte: Einem theoretischen Abschnitt, in dem er die rechtstheoretischen Grundlagen erörtert und einem dogmatischen Abschnitt, in dem er das geltende Recht untersucht. Dabei beschränkt er seine Ausführungen nicht nur auf deutschsprachige Autoren, sondern schenkt auch der englisch- und französischsprachigen Literatur das nötige Gehör. Zunächst nimmt Buchheim eine begriffsgeschichtliche Untersuchung der bereits im Titel erwähnten Grundbegriffe actio, Anspruch und subjektives Recht beginnend im alten Rom vor und endet bei den großen Zivilrechtlern des 19. Jahrhunderts. Anschließend zeigt er die Begriffsrezeptionen im Öffentlichen Recht auf. Sodann stellt er Definitionen und Funktionsbeschreibungen seiner Grundbegriffe dar und grenzt diese voneinander ab. Dabei kann er zeigen, dass diese inhaltlich nicht identisch sind. Im Anschluss nimmt er eine Unterscheidung zwischen materiellem und Prozessrecht vor. Im dogmatischen Abschnitt schließlich untersucht er zunächst die prinzipielle Vereinbarkeit des Aktionenmodells mit dem Grundgesetz, insbesondere auch mit der Kompetenzordnung und der Rechtsschutzgarantie. Dem folgend sucht er im materiellen Recht vergeblich nach einer Grundlage für das Anspruchsmodell und zeigt die konkrete Vereinbarkeit des geltenden Prozessrechts mit dem Aktionenmodell. Schließlich zeigt Buchheim, dass das Anspruchsmodell auch nicht mehr über Art. 19 Abs. 4 GG gerettet werden kann.Rn. 2
In der Tat ist es nicht von der Hand zu weisen, „dass in der deutschen Rechtsordnung Gerichte Dinge können und dürfen, die die Verwaltung weder kann noch darf.“ (S. 238). Daher muss das Anspruchsmodell mehrfach durchbrochen werden. Bereits für die Feststellungsklage (§ 43 Abs. 1 VwGO) ist dieses Modell unbrauchbar. Auch von den Vertretern des Anspruchsmodells wird eingeräumt, dass es sich bei der Feststellungsklage um ein rein prozessuales Instrument handele, dem kein materiell-rechtlicher Feststellungsanspruch des Bürgers gegenüber der Verwaltung zugrunde liege. Ein weiterer Durchbruch liegt in der konkreten Normenkontrolle (§ 47 VwGO) bzw. der inzidenten Normverwerfungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Eine Normverwerfungskompetenz kommt den Behörden nach einhelliger Auffassung nicht zu. Damit kann der einzelne Bürger einen solchen materiellen Anspruch nicht gegenüber der Verwaltung haben. Auch die gerichtliche Normverwerfungskompetenz ist ein rein prozessuales Instrument des Prozessrechts. Schließlich kann das Anspruchsmodell auch nicht auf den vorläufigen Rechtsschutz (§§ 80 Abs. 5, 80a, 123 VwGO) angewendet werden. Das materielle Recht regelt nur den rechtlichen Endzustand. Einen Anspruch auf eine vorläufige Regelung („Zwischenrecht“) kann und wird aus dem materiellen Recht nicht entnommen (werden). Daher kann der vorläufige Rechtsschutz ebenfalls nur als prozessuales Recht ohne materiell-rechtliches Pendant verstanden werden. Das Aktionenmodell hingegen kann das Prozessrecht unabhängig von materiellen Ansprüchen erklären, ohne gegen das Verfassungsrecht oder einfaches Recht zu verstoßen.Rn. 3
Bereits 28 Jahre vor KarstenSchmidts „Formular-Rezension“ (JZ 1982, 343) beklagte sich OttoBachof in einer Glosse: „Nichts mehr von wirklicher Kritik, nichts mehr von Polemik in den heutigen Rezensionen. […] Die Kritiker finden in schöner Einmütigkeit fast nur Lobenswertes an unseren Werken.“ (JZ 1954, 709). Leider gibt es an diesem Werk wirklich nichts zu kritisieren. Das Einzige, worauf man höchstens noch hinweisen könnte, wäre folgendes: Der Grund für die Unterfütterung des materiellen Rechts mit gerichtlichen Reaktionsansprüchen sei ein Minderwertigkeitskomplex der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewesen. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war man im Zivilrecht der Auffassung, eine „echte“ Gerichtsbarkeit könne nur eine solche sein, die auch materielle Ansprüche durchsetze. Um die Verwaltungsgerichte gegenüber den Zivilgerichten als „echte“ Gerichte zu legitimieren, müssten diese ebenfalls materielle Ansprüche durchsetzen. Daher sei es notwendig gewesen, das materielle Verwaltungsrecht mit Ansprüchen auszustatten, die dann gerichtlich (und damit durch „echte“ Gerichte) durchgesetzt werden konnten (S. 55). Diese Argumentation ist jedoch durch den zwischenzeitlich ergangenen Art. 95 Abs. 1 GG obsolet geworden. Danach stehen die dort fünf aufgeführten Gerichtsbarkeiten gleichrangig und selbstständig nebeneinander. Eine besondere Legitimation der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber der Zivilgerichtsbarkeit über das Merkmal der „Durchsetzung von Rechtsansprüchen“ bedarf es somit nicht mehr. Dem Anspruchsmodell wurde durch das Grundgesetz nunmehr der historische Sockel entzogen.Rn. 4
Die Ausführungen von Buchheim sind überzeugend. Es bleibt zu hoffen, dass sich das Aktionenmodell langfristig aus seiner Außenseiterrolle befreien und sich gegenüber dem Anspruchsmodell durchsetzen kann. Auch wenn die Ausführungen zum Teil sehr rechtstheoretischer Natur sind, können die Gedanken zur Dogmatik durchaus auch von einem Praktiker fruchtbar gemacht werden. Das Werk stellt einen erheblichen Mehrwert für das Verwaltungsrecht dar und kann daher jedem Verwaltungsrechtler nur empfohlen werden.Rn. 5