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Dr. Florian Albrecht*: Rezension – Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, 2021

ZVR-Online Dok. 10/2022 – online seit 04.10.2022

Matthias Herdegen, Johannes Masing, Ralf Poscher und Klaus Ferdinand Gärditz
Handbuch des Verfassungsrechts. Darstellung in transnationaler Perspektive

Verlag C.H.BECK
München 2021
LVIII und 1837 Seiten
249,00 Euro
ISBN 978-3-406-73850-0

Mit dem von Matthias Herdegen, Johannes Masing, Ralf Poscher und Klaus Ferdinand Gärditz herausgegebenen „Handbuch des Verfassungsrechts“ sollen die transnationalen Bezüge des deutschen Verfassungsrechts systematisch in den Vordergrund gestellt und das deutsche Recht mit Blick auf einen transnationalen Austausch international eingeordnet werden. Bereits der Untertitel des Sammelbandes - „Darstellung in transnationaler Perspektive“ - legt diese Zielsetzung offen. Untergliedert ist das Kompendium in fünf große Teile zu den „Grundlagen“ (Teil I. mit §§ 1 bis 4), den Verfassungsprinzipien (Teil II. mit §§ 5 bis 8), der Staatsorganisation (Teil III. mit §§ 9 bis 15), den Grundrechten (Teil IV. mit §§ 16 bis 23) und den Teilordnungen der Verfassung (Teil V. mit §§ 24 bis 28). Dass die Besprechung eines so umfangreichen Werkes nur Einblicke in die einzelnen Beiträge bzw. Kapitel gewähren kann, wird man erahnen können. Die vorliegende Rezension folgt zudem den persönlichen Interessen ihres Verfassers und erhebt daher auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Rn. 1

Die seitens der Herausgeber verfasste Einleitung wirkte auf den Rezensenten, der sich von dem Handbuch vor allem auch Impulse für das eigene rechtswissenschaftliche Wirken erhofft, zunächst etwas abschreckend. Die Ausrichtung des Werkes (insbesondere auch) am ausländischen Leser, dem der Zugang zum deutschen Verfassungsrecht vermittelt werden soll, wird hier betont. Die Leitlinien und Strukturen des deutschen Verfassungsdenkens (so zum Gegenstand der Darstellung Einl. Rn. 10) sollten dem deutschen Rechtswissenschaftler in der Regel aber bekannt sein. Mit „an Bord geholt“ wurde der Rezensent dann allerdings aufgrund der Ausrichtung der einzelnen Beiträge an der „Perspektive einer Selbstbeobachtung“, die „Stärken und Schwächen des deutschen Verfassungsrechts“ erkennbar macht und den Leser hierdurch zur „kritischen Selbstreflexion“ befähigen soll (Einleitung Rn. 14 f.). Dass Wissenschaft auch von der Infragestellung der „scheinbaren Selbstverständlichkeiten“ lebt (vgl. Einleitung Rn. 21), kann nicht oft genug betont werden. In der Praxis ermöglicht oftmals erst die unbefangene und unvoreingenommene Befassung mit einer Rechtsmaterie den Zugang zu sinnvollen Problemlösungsstrategien.

Rn. 2

Das erste Kapitel (§ 1 von Herdegen) verfolgt den Zweck, seinen Leser mit den Grundzügen des „westlichen Konstitutionalismus“ und deren Verortung im Grundgesetz vertraut zu machen. Die hier enthaltenen Ausführungen zur Bedrohung des Rechtsstaats mittels der politisch gewollten Schaffung rechtsfreier Räume in der Krise bzw. im Ausnahmezustand (Rn. 30), zu den Risiken der „Aufladung von Verfassungsinhalten mit notwendig zeitgebundenen Moralvorstellungen“ (Rn. 45; zur Problematik siehe zuletzt auch die Kritik bei Fischer, https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/wiederaufnahme-eine-frage-an-fischer-bverfg-unertraeglich/) und der teilweise festzustellenden Entkopplung der Rechtsprechung von der Realität (vgl. Rn. 47 f. zum „Verhältnis von Recht und Empirie“) lesen sich beinahe als Mahnung. Hier könnte deutlich werden, dass sich unsere Rechtspraxis und Rechtspolitik wohl leider auch zunehmend von zentralen Grundelementen einer westlichen Verfassungstradition entfernen. Mehr gelesen hätte der Rezensent gerne bspw. über die wehrhafte Demokratie (Rn. 79 f.), die in Krisenzeiten oft beschworen wird, nicht selten aber auch in Konflikt mit der Gewährleistung grundlegender Freiheiten zu geraten scheint.

Rn. 3

Mit der historischen, dogmatischen und theoretischen Analyse des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit befasst sich das dritte Kapitel (§ 3 von Poscher). Hier ist insbesondere die Darstellung der Kritik lesenswert, der der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgesetzt ist (Rn. 37 ff.). Während sich der „aus dem Wesen der Grundrechte selbst“ folgende Grundsatz in der Erinnerung des Rezensenten in erster Linie als Garant der Freiheitsrechte etabliert hat, kommen dort auch Stimmen zu Wort, die in dem stetigen Abwägungsvorbehalt eine Gefahr sehen, die einer effektiven Schutzwirkung der Grundrechte entgegensteht (Rn. 37). Dass über das Kriterium der Angemessenheit im Ergebnis beliebige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (und der Verwaltungsgerichtsbarkeit) ermöglicht werden (vgl. Rn. 40), dürfte dem gerichtserfahrenen Praktiker aus leidvoller Erfahrung bekannt sein. Detailliert werden die einzelnen Facetten des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anhand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachgezeichnet, wobei insbesondere auch die Einschätzungsspielräume, die vor allem der Gesetzgeber für sich in Anspruch nehmen kann (Rn. 100), aufgezeigt und mit der insoweit großzügigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) abgeglichen (Rn. 106 zur Öffnung der Rechtsprechung des EGMR für eine Ausdifferenzierung in den einzelnen Konventionsstaaten) werden.

Rn. 4

Weitere Kapitel befassen sich mit der „Verfassungsentwicklung und Verfassungsrechtswissenschaft“ (§ 4 von Gärditz), der Demokratie (§ 5 von Möllers), dem Rechtsstaat (§ 6 von Huber), dem Sozialstaat (§ 5 von Wallrabenstein) und dem Bundesstaat (§ 8 von Wieland).

Rn. 5

Einen Überblick über das Staatsangehörigkeitsrecht und die Entwicklung des „menschen- und unionsrechtlich überformten“ Ausländerrechts vermittelt das Kapitel „Der Staat als Personalverband“ (§ 9 von Siehr). Hier werden vor allem auch die Entwicklungslinien des Staatsangehörigkeitsrechts (im internationalen Vergleich) nachgezeichnet und die Rechtsgrundlagen der Migration nach Deutschland und Europa aufgezeigt. Die Erläuterungen sind leicht verständlich und verschaffen dem Leser einen raschen und facettenreichen Zugang zu einem komplexen Rechtsgebiet. Aufgefallen ist dem Rezensenten, dass sich die Autorin – insbesondere hinsichtlich der den Angehörigen sogenannter Drittstaaten zuzubilligenden Teilhaberechte – für einen durch eine eher extensive Interpretation der Menschenwürde geprägten Ansatz entschieden zu haben scheint (siehe schon Rn. 11). Zustimmung finden kann in diesem Zusammenhang (noch) die Feststellung, wonach sich ein dauerhafter Ausschluss der nicht-deutschen Wohnbevölkerung von den politischen Teilhaberechten und anderen Staatsbürgerrechten mit dem Grundgesetz (grundsätzlich) nicht vereinbarten lassen dürfte (Rn. 4). Die für den Erhalt der Rechtsstaatlichkeit zwingende Differenzierung zwischen legaler und illegaler Migration darf hierdurch allerdings nicht in Frage gestellt werden und kann auch in rechtlicher Hinsicht nicht ohne Konsequenzen bleiben. Der Rezensent hätte sich zudem einen Hinweis darauf gewünscht, dass eine anhaltend unkontrollierte Zuwanderung von Menschen aus fremden Kulturkreisen (zur Flüchtlingskrise des Jahres 2015 siehe Rn. 183 ff.; kritisch dementgegen bspw. Isensee, Grenzen, 2018, S. 114) letztendlich auch zu einer Bedrohung für unser menschenrechtliches Wertefundament (hierzu etwa Rn. 192) und unser demokratisches Staatswesen werden könnte (vgl. BVerfG, Beschl. 21.10.1987 – 2 BvR 373/83, juris Rn. 35 zur verfassungsrechtlichen Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten; siehe auch Murswiek, in: Depenheuer/Grabenwarter, Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2017, S. 127 f.).

Rn. 6

Kapitel 10 (§ 10 von Waldhoff) befasst sich mit dem „Parteien-, Wahl- und Parlamentsrecht“ und schließt bspw. eine kritische Stellungnahme des Verfassers zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Rn. 50) und des EGMR (Rn. 54) in Sachen Parteiverbotsverfahren sowie Hinweise zum Sachstand in Sachen „Geschlechterquoten im Wahlrecht“ (Rn. 97 ff.) ein. Dem Kapitel folgen Ausführungen zum parlamentarischen Regierungssystem (§ 11 von Kersten), Gesetz und Gesetzgebung (§ 12 von Lepsius), Rechtsschutz und Rechtsprechung (§ 13 von Gärditz), Verwaltung und Selbstverwaltung (§ 14 von Cancik) und dem Bundesverfassungsgericht (§ 15 von Masing).

Rn. 7

Der große vierte Teil des Werkes überzeugt mit inhaltsreichen Kapiteln über die allgemeinen Grundrechtslehren (§ 16 von Volkmann), die Menschenwürde (§ 17 von Poscher), die persönliche Freiheit (§ 18 von Eifert), die Gleichheitsrechte (§ 19 von Sacksofsky), die Kommunikationsfreiheiten (§ 20 von Nußberger), das Religionsverfassungsrecht (§ 21 von Ungern-Sternberg), die Ehe, Familie und Erziehung (§ 22 von Jestaedt) sowie die Grundrechte in der Wirtschafts- und Arbeitsordnung (§ 23 on Wißmann). Hier finden sich rechtshistorische Einordnungen ebenso wie rechtsvergleichende Betrachtungen und Analysen der maßgeblichen Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Rn. 8

Anhand des von dem Rezensenten eingehend durchgesehenen Kapitel über die Kommunikationsfreiheiten wird deutlich, dass ein Blick in das mit dem Handbuch des Verfassungsrechts angebotene „Schaufenster“ (vgl. Vorwort S. X.) auch den Studierenden der Rechtswissenschaft empfohlen werden kann. Hinsichtlich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit finden sich hier eine Zusammenfassung des zur Bewältigung von Prüfungs- oder Praxisfragen notwenigen Wissen über die spezifische grundrechtliche Prüfung (Rn. 29 ff.) und darüberhinausgehend auch ausführliche - keinesfalls aber überfrachtete - Hinweise auf besondere Problematiken, die sich im Zusammenhang mit der Gewährleistung dieses, die „Grundlage jeder Freiheit“ (vgl. Rn. 1) bildenden Grundrechts stellen (siehe bspw. Rn. 51 zu den dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG entzogenen unwahren Tatsachenbehauptungen).

Rn. 9

Das Handbuch schließt mit Kapiteln zur Finanzverfassung (§ 24 von Wieland), der Medienverfassung (§ 25 von Schuler-Harms), dem Umweltverfassungsrecht (§ 26 von Durner), der Außen- und Wehrverfassung (§ 27 von Herdegen) sowie dem Sicherheitsverfassungsrecht (§ 28 von Bäcker).

Rn. 10

Der Rezensent hat sich anlässlich seiner Befassung mit dem Handbuch insbesondere die Frage gestellt, welchen Mehrwert das Werk dem Praktiker im Vergleich mit herkömmlichen Lehrbüchern zum Staatsrecht bzw. den Grundrechten oder gar Grundgesetzkommentaren bietet. Insoweit steht im Vordergrund, dass mit dem Handbuch des Verfassungsrechts nicht primär punktuelles Wissen weitergegeben wird, sondern vielmehr Zusammenhänge aufgezeigt werden und der Versuch unternommen wird, dem Leser ein tiefergehendes Verständnis für die verfassungsrechtliche Materie zu vermitteln. Im Rahmen der Durchsicht des Werkes haben sich dem Rezensenten bereits neue Sichtweisen eröffnet, die er im Rahmen weitergehender Recherchen vertiefen wird.

Rn. 11
Fußnoten

* Der Verfasser ist Regierungsdirektor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Brühl.